Antwort auf: Bob Dylan

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otis

close-to-the-edgeIch, als Dylan bekannlich eher neutral Gegenüberstehender, finde die Nummer eigentlich ganz nett, wenngleich man über 16 Minuten besser für etwas Abwechslung gesorgt hätte.

Ich denke, genau das macht sie so großartig richtig. Dieses ewige, ruhig dahinklimpernd endlos aufzählende Etwas steht doch letzendlich hilflos dem historischen Geschehen gegnüber. Die Gleichzeitigkeit des Ganzen macht für mich den großen Sinn. Ich habe das nicht parat, welchen Einfluss der Mord an Kennedy tatsächlich auf Dylan gehabt haben mag. Danach jedenfalls ging er erst einmal in sich mit Another Side. Und ich weiß nicht, ob mit den Zeilen der Hits „Hello Mary Lou“ (1961) und „Hello Stranger“ (1963) im „False Prophet“ nicht auch biografische Anknüpfungspunkte zu sehen sind. Jedenfalls liest sich in meinen Augen der Text wie eine Selbstdekonstruktion des 60er-Dylan. Interessant, dass ihm das noch wichtig zu sein scheint. Oder setzen ihm die Dylanologen noch immer so, ihn überhöhend, zu?

Dekonstruiert wird da auch das, was wir als künstlerisches „Ich“, artistische Personality, Individualitaetskern des Musikers zu betrachten gewohnt sind. An diesem Projekt arbeitet Dylan ja mindestens seit „Love and Theft“ mit allem was er tut: in Gemälden (wo sich auf den ersten Blich wie authentisch beobachtete Szenen wirkende Bilder als gemalte Varianten alter, von anderen gemachter Fotografien entpuppen), in Chronicles (wo sich so vieles, was vorderhand autobiografisch klingt, als Zitate-Irrgarten von Jack London bis Mark Twain erweist), in Reden, in Songs. Und je betonter er „Ich“ sagt, desto weniger sollten wir das wörtlich nehmen.

Da ist „False Prophet“ (musikalisch eine fast komplette Kopie von „If Lovin Is Believin“ aus dem Jahr 1954) nur das jüngste Beispiel. Auch Murder Most Foul besteht ja teilweise Zeile für Zeile nur aus Zitaten. Dieses Vorgehen hat Dylan mittlerweile wirklich wahnsinnig radikalisiert.

Insofern ist das tatsächlich das Gegenteil zumindest des öffentlichen Dylanbildes aus den 60er-Jahren, als er als Inbegriff des individuellen Innovators galt.

Das Faszinierende ist, dass das schon damals natürlich überhaupt nicht gestimmt hat. Bezugnahme, Zitate, Arbeit mit Traditionslinien, Annäherung an Vorbilder bis hin zur Mimikry: All das war schon beim 60er-Dylan wichtig.

Der alte D. radikalisiert das Verfahren nur noch immer weiter. Mittlerweile kann man wohl sagen, dass Dylan das Prinzip der Intertextualitaet auf eine Weise radikalisiert hat, die jeden Plagiator oder Epigonen wie einen Waisenknaben ohne Vision und Perspektive aussehen lässt. Das ist schon mitreißend und spektakulär.

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