Antwort auf: West Coast Jazz: Cool Innovations – Los Angeles & Hollywood in den Fünfzigern

Startseite Foren Über Bands, Solokünstler und Genres Eine Frage des Stils Blue Note – das Jazzforum West Coast Jazz: Cool Innovations – Los Angeles & Hollywood in den Fünfzigern Antwort auf: West Coast Jazz: Cool Innovations – Los Angeles & Hollywood in den Fünfzigern

#11089321  | PERMALINK

gypsy-tail-wind
Moderator
Biomasse

Registriert seit: 25.01.2010

Beiträge: 68,155

Kapitel 2, Teil 2: Goin‘ West – Blue Sands: Los Angeles, Mid-Fifties

Weiter geht’s 1954 in Los Angeles: Der „West Coast Jazz“ – es gibt ihn, und es gibt ihn nicht – hatte inzwischen Form angenommen, Musiker wie Shorty Rogers, Gerry Mulligan (2 Links) oder Shelly Manne hatten den Sound massgeblich geprägt. Chet Baker (2 Links), Art Pepper (2 Links), Jimmy Giuffre, Hampton Hawes und Bud Shank zählen zu den vielversprechenden Talenten, die wir in der letzten Folge bereits hörten. Sie entwickelten sich in den Fünfzigerjahren weiter.

Chet Baker hatte Mulligans Combo übernommen, als dieser eine Gefängnisstrafe absitzen musste. Dick Bock von Pacific Jazz nahm nicht nur das neue Baker Quartett mit Russ Freeman auf sondern suchte auch nach Wegen, Bakers Talent anders zu präsentieren. Mal stiessen bloss ein paar weitere Bläser dazu, ein anderes Mal eine Querflöte, vier Celli und eine Harfe.

Shelly Manne setzte seine Reihe mit aussergewöhnlichen Aufnahmen fort. Zwischen Miniaturen (siehe oben) gesellte sich auch schon Mal ein ausgewachsenes Konzert für Klarinette und Jazz Combo – mit einem Klarinettisten aus San Francisco, der dort im Umfeld eines gewissen Dave Brubeck an einer Vermählung von Jazz und Klassik arbeitete, der man später das Etikett „Third Stream“ verpassen sollte (hier lang für mehr). Manne spielte auch mit Chet Bakers Quartett und es wird klar, wie sehr die Chemie zwischen ihm und Russ Freeman passte, wenn man die Aufnahmen anhört. So entstanden auch Duo-Aufnahmen, die später mit einer noch ungewöhnlicheren Session auf einer LP kombiniert wurden: „The Three“, das waren Shorty Rogers (t), Jimmy Giuffre (cl, ts, bari) und Manne (d). Man spielte Fugen und Charlie Parker, man reagierte blitzschnell auf jeden Einfall der Kollegen – und man improvisierte sogar völlig frei, ohne Changes, ohne jegliche Absprachen (Lennie Tristano lässt grüssen).

Jimmy Giuffre sticht sogar unter den experimentierfreudigen Kaliforniern heraus. Er stammte aus Texas (seinem staubtrockenen Ton am Tenorsaxophon hört man das manchmal an) und war schon früh besessen von Klängen, stets auf der Suche nach Neuem. Er hatte bei Woody Herman gespielt (wir hörten sein „Four Brothers“ in einer früheren Sendung), stiess zu den Lighthouse All Stars und verliess diese dann gemeinsam mit Shorty Rogers und Shelly Manne, um zu Rogers‘ neuen Giants zu stossen. Mitte der Fünfziger war die Zeit reif, um eigene Projekte anzupacken. Das zweite Album, „Tangents in Jazz“ (Capitol, 1955) ist ebenso wie das folgende „The Jimmy Giuffre Clarinet“ (Atlantic, 1956) ein Meisterwerk. Giuffre spielte unbegleitet Klarinette, stellte Holzbläserformationen zusammen, liess den Drummer nur mit den Händen spielen … Giuffre verabscheute die Klischees und die zupackende Hemdsärmeligkeit des modernen Jazz, er wollte die in seinen Augen sklavische Abhängigkeit vom nie stoppenden Beat durchbrechen. Mit seiner „Jimmy Giuffre 3“ mit Jim Hall (g) und Ralph Peña (b) gelang ihm dann auch etwas, was wenige Bandleader schaffen: eine originäre Combo, deren Klang quasi eine Extension seiner eigenen Klangvorstellungen darstellt. Er orientierte sich dabei an Debussys Sonate für Flöte, Bratsche und Harfe: „Jim was the harp, Ralph was the viola and I was the flute“. Ein Schlagzeug sucht man in der Formation vergebens, doch der Swing leidet darunter erstaunlicherweise – und im Widerspruch zu Giuffres Ansicht, was den fortlaufenden Beat betrifft – überhaupt nicht!

Bud Shank und Art Pepper hatten sich inzwischen zu reifen Musikern entwickelt. Beider Weg führte von einer kühlen, feinen Spielweise, wie sie für den „West Coast Jazz“ typisch ist, zu einer härteren, treibenden, stark vom Bebop geprägten. Pepper nahm etwa mit Russ Freeman auf, stiess im Studio auch auf Warne Marsh, den Tristano-Eleven und Angeleno der in seine Heimat zurückgekehrt war.

Bud Shank tat sich schon früh mit der Etikettierung als West Coast Jazzer schwer. Im Gespärch mit Doug Ramsey äusserte er sich darüber, zurückblickend:

„Neither Claude nor Chuck nor I was playing what was known as ‚west coast jazz‘ music at that time,“ Shank said.
„That happened a few years before than, and we were all breaking away from that.“
„Meaning what?“ I asked. „What were you breaking away from?“
„The very delicate way that we all played in earlier years …“ he stopped in mid-sentence. „I don’t even know what the hell west coast jazz is,” he said, with exasperation and no wry laugh. „It was something different from what they were doing in New York, so the critics called it west coast jazz. That Miles Davis BIRTH OF THE COOL album, out of New York, probably started west coast jazz. It was also very organized, predetermined, written. It was a little bit more intellectual, shall I say, than had happened before. Jimmy Giuffre, Buddy Childers, Shorty [Rogers], Shelly Manne, Marty Paich, Coop [Tenorsaxophonist Bob Cooper], almost everybody involved; we all came from somewhere else, New York, Texas, Chicago, Ohio. The fact that we were in L.A. around the orange trees had nothing to do with it. I really think that everybody played the way they would have played no matter where they were. New York writers, they’re the ones who invented west coast jazz.“
„Those bastards,“ I said.
„Those bastards,“ he said, laughing uproariously.

(aus Doug Ramseys Liner Notes zu „The Pacific Jazz Bud Shank Studio Sessions (1956–61)“, 5 CD, Mosaic, 1998)

Schlagzeuger Chico Hamilton (2 Links) begann 1954 ebenfalls damit, eigene Combos zu leiten. Er hatte seine Sporen unter anderem im Gerry Mulligan Quartet mit Chet Baker abverdient. Mit dem Multi-Instrumentalisten Buddy Collette (cl, as, ts, fl), Jim Hall (g), Fred Katz (cello) und Carson Smith (b) gründete er ein Jahr später das erste berühmte Chico Hamilton Quintet, das für Pacific Jazz eine Reihe toller Aufnahmen machen sollte. Hamilton war noch deutlich mehr als Shelly Manne ein „Anti-Drummer“, wie man die Westküsten-Trommler gern titulierte (und diffamierte). Seine Musik liess wie jene von Rogers, Giuffre oder Manne Raum für Experimente, sie beruhte gerade im originalen Line-Up oft auf intuitivem Zusammenspiel, wie etwa im unvergesslichen „Blue Sands“.

Auch Hampton Hawes, der famose Pianist (siehe oben), begann in der Mitte des Jahrzehnts, eigene Aufnahmen zu machen – endlich, Lester Koenig von Contemporary Records hatte den Plan ja bereits Jahre zuvor gefasst. Bei Hawes hören wir – ebenso wie im Spiel des Pianisten des Bud Shanks Quartet, Claude Williamson – einen intensiven Stil nach dem Vorbild von Bud Powell. Aber der West Coast Jazz bezog sich auch oftmals zurück auf ältere Einflüsse. Chico Hamilton hatte seinen Stil auch nach dem Vorbild von Drummern wie Jo Jones oder Sonny Greer geform; „Papa“ Jo Jones spielte in Count Basies sogenannter Old Testament Band, Greer war von 1923 bis 1951 Schlagzeuger bei Duke Ellington und ist wohl derjenige, dem der Ehrentitel „original nutty drummer“ gebührt.

Count Basie war für den West Coast Jazz eine prägende Figur, gerade auf rhythmischer Ebene war der fliessende Swing Kansas City manchem näher als die zerklüfteten Rhythmen des Bebop. Chico Hamilton hat Basie-Nummern eingespielt, der Einfluss ist aber auch beim „typischen“ West Coast Jazz von Lennie Niehaus und Bob Gordon/Jack Montrose zu hören: Count Basie meets Charlie Parker meets Kontrapunkt.

Es geht weiter, aber im nächsten Thread, denn Mitte der Fünfzigerjahre reckte auch der Bebop, der nie ganz verschwunden war, nochmal sein Haupt, es entstanden einige herausragende Hard Bop-Alben – ein paar von ihnen überraschenderweise unter Shelly Mannes Obhut.

Ferner folgt wie schon erwähnt ein Blick auf San Francisco, wo lange Zeit nur Dixieland-Retro-Bands aktiv und erfolgreich waren, bis ein paar Studenten von Darius Milhaud sich daran machten, das zu ändern. Der bekannteste unter ihnen wurde – eigentlich eher trotz als wegen seiner musikalischen Hartnäckigkeit – zu einem der erfolgreichsten Jazzmusiker aller Zeiten: Dave Brubeck.

Die Band:

Shorty Rogers, Jack Sheldon, Stu Williamson (t)
Chet Baker (t, voc)
Buddy Collette (fl, ts)
Jimmy Giuffre (cl, ts, bari)
Art Pepper, Lennie Niehaus (as)
Bud Shank (as, fl, bari)
Jack Montrose, Bill Perkins, Warne Marsh (ts)
Bob Gordon (bari)
Hamptown Hawes, Russ Freeman, Claude Williamson, Paul Moer (p)
Jim Hall (g)
Carson Smith, Ralph Peña, Red Mitchell, Ben Tucker, Joe Mondragon (d)
Shelly Manne, Chico Hamilton, Chuck Flores (d)
arr. Jack Montrose, Frank Campo, Lennie Niehaus

--

"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #158 – Piano Jazz 2024 - 19.12.2024 – 20:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba