Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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Zürich, Opernhaus – 04.02.2020

Iphigénie en Tauride
Tragédie en quatre actes von Christoph Willibald Gluck (1714-1787)
Libretto von Nicolas-François Guillard
nach der gleichnamigen Tragödie von Claude Guimond de La Touche

Musikalische Leitung Gianluca Capuano
Inszenierung Andreas Homoki
Ausstattung Michael Levine
Lichtgestaltung Franck Evin
Choreinstudierung Janko Kastelic
Dramaturgie Beate Breidenbach

Iphigénie Cecilia Bartoli
Oreste, Iphigénies Bruder Stéphane Degout
Pylade, Orestes Freund Frédéric Antoun
Thoas, König von Tauris Jean-François Lapointe
Diane Birgitte Christensen
Femme Grecque Katia Ledoux
Die junge Iphigénie Sophie Kapun
Der junge Oreste Immanuel Otelli

Orchestra La Scintilla
Chor der Oper Zürich
Statistenverein am Opernhaus Zürich

Grossartige Aufführung gestern an der Oper! Mit Glucks Werk bin ich noch kauf vertraut, aber die Karte hatte ich – wegen Bartoli – schon im Frühling gekauft, als der Vorverkauf anlief. Première war am Sonntag, die Berichte dazu fast schon euphorisch, gross daher meine Vorfreude – und es wurde keine Enttäuschung, eher noch verhielt es sich so, dass das Erlebnis so gut war, dass Worte kaum genügen. Wieder einmal – so häufig kommt das in der Oper mit ihren vielen Variablen ja nicht vor – passte hier alles: Inszenierung,Bühne, Kostüme, Licht, Besetzung, musikalische Gestaltung. Schlicht umwerfend!

Zur Einordnung von Gluck und der „Iphigénie en Tauride“ gab es im Programmheft ein paar hilfreiche Informationen, vor allem in einem Gespräch mit Homoki, aber auch in einem Text der Dramaturgin Breidenbach. Die Gesangsführung ist auf maximale Verständlichkeit aus (was sich ja bestens in die französische Tradition einordnet), kommt fast völlig ohne Koloraturen, ohne Pyrotechnik aus. Die Rezitative werden vom Orchester begleitet („Recitativo Accompagnato“ ist der Fachbegriff), alles läuft auf das Vermitteln von Emotionen heraus, es braucht entsprechend Stimmen und Darsteller*innen, die das auch zum Fliegen bringen können, die ihre Wirksamkeit aus der Rolle heraus, nicht als Rampensau, erzielen können.

Die Bühne war schlicht, ein sich verjüngender, rechteckiger schwarzer Raum, in den immer wieder schroffe Risse brachen. Der Chor bewegte sich auf der schiefen Ebene und an den Rissen virtuos, Männer und Frauen stets getrennt. Der Chor übernimmt überhaupt eine tragende Rolle – und einmal mehr war er hervorragend. Die Kostüme waren wie die Bühne in schwarz gehalten, mit Ausnahme der stummen jungen Iphigénie und Oreste sowie der Göttin Diane, die immer wieder (auch Diana zunächst stumm) durch das Stück geistern. Vorne war die Bühne von einem Rechteck aus Licht umrahmt,

Die Inszenierung vom Intendanten Homoki, der es oft gerne bunt und wuselig mag, war von einer perfekt auf das Stück abgestimmten Strenge, die Bühne leer, das Licht spärlich, die Bewegungen – oft schwarz vor schwarz, die Sängerinnen zogen manchmal Schleier über die Gesichter, was eine gespenstische Stimmung erzeugte: Stimmen aus dem Nichts. Und wenn der Chor in den Rissen verschwand oder sich auf den schiefen Boden legte, wurde er quasi Teil der Kulisse.

Mit Homoki hat Bartoli noch nie gearbeitet, eine Gluck-Oper hat er auch erst einmal inszeniert – natürlich entsteht eine neue Produktion mit Bartoli in Zusammenarbeit mit ihr, die in Zürich wohl immer noch so etwas wie ihr Stammhaus hat, obwohl sie unter Homokis Ägide bisher nur bei einer Neuproduktion (ebenfalls grossartig, Händels „Alcina„), sonst bloss in Wiederaufnahmen (zuletzt in „La Cenerentola“ mitwirkte.

Für ihre aktuelle Stimme ist die Oper von Gluck schlicht perfekt. Es war unfassbar, wie sie einen mitleiden machte mit der Figur, wie fesselnd sie die Rolle gestaltete, ja buchstäblich mit Leben füllte. Oft ganz still, mit dieser einmaligen Kraft, die noch im Pianissimo den ganzen Raum zu füllen vermag. Diese Momente gab es bei Händel und anderswo, aber bei Rossini neulich fehlten sie etwas (weil sie im Stück halt nicht vorgesehen sind). Glucks Modernität wurde auch überdeutlich, etwa in der Passage, in der die Bratschen über mehrere Minuten auf demselben Ton „riffen“, der grossen Arie des Oreste, in der er davon singt, wie er nach dem Muttermord allmählich zur Ruhe komme – die Musik aber eine ganz andere Sprache spricht.

Stéphane Degout und Frédéric Antoun waren für Bartoli ebenbürtige Partner, als das Freundesgespann Oreste und Pylade, deren homoerotisch aufgeladene Freundschaft – inklusiver grosser Duos – die ansonsten im Plot fehlende Liebesbeziehung ersetzt. Beide glänzten in ihren Rollen, stimmlich gefiel mir Antoun wohl eher noch eine Spur besser. Luxuriös auch die Besetzung der Diane mit Birgitte Christensen, die wie gesagt im Laufe des Stückes immer wieder – als fahler weisser Schatten auf der schwarzen Bühne – herumgeistert, stumm, schlafwandlerisch manchmal. Ihr Auftritt als Sängerin ist kurz, aber da Christensen bei knapp der Hälfte der Termine die Titelrolle übernimmt, steht sie bei den anderen Daten als Diane zur Verfügung, die Göttin, die Iphigénie rettete und der diese nun auf Tauris dient. Ihr Part besteht hauptsächlich darin, das geforderte lieto fine, die Erlösung von Oreste und Iphigénie, zustande zu bringen.

Superb war auch das Orchester, La Scintilla, auf alten Instrumenten, warm im Ton, perfekt mit den Stimmen zusammenklingend, sei es, wenn die Oboe in ein Duett verwickelt wurde oder sei es in den Tutti: die Dynamik aber auch die Tempi, überhaupt die gesamte Ausgestaltung, wie Gianluca Capuano sie erarbeitet hat, waren perfekt. Dass das Stück – wie neulich „Fidelio“ – ohne Pause gegeben wurde, war einmal mehr ein richtiger Entscheid. Die Geschlossenheit der ganzen Produktion liess jedenfalls das Publikum auf Nadeln sitzen, so still und gebannt habe ich es selten erlebt, es gab keinen einzigen Szenen- oder Arienapplaus, auch da nicht, wo Capuano einige Momente innehielt. Dafür warf am Ende jemand einen grossen Strauss Rosen auf die Bühne, die Bartoli während des Applauses an die Solist*innen und die erste Reihe des Chores, aber auch ans Pult der Konzertmeisterin unten im Graben verteilte. Ein Farbfleck zum Ende, der den danach zu meisternden harten Übergang zurück in den Alltag ein wenig überbrückte. Phänomenal!

Rezension der NZZ:
https://www.nzz.ch/feuilleton/opernhaus-zuerich-iphigenie-en-tauride-deiner-familie-entkommst-du-im-leben-nicht-ld.1538154
Und Vorabbericht zur Aufführung und zu Bartoli:
https://www.nzz.ch/feuilleton/cecilia-bartoli-und-ihre-zukunftsplaene-starke-frauen-mit-lebenserfahrung-ld.1537486

Rezension des Tagesanzeigers:
https://www.tagesanzeiger.ch/kultur/klassik/schoener-kann-man-ueber-mord-nicht-singen/story/16297596

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