Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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gypsy-tail-wind
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Ganz zu Ende ist das Jahr noch nicht, morgen Abend geht es in die Oper für „Don Pasquale“, übermorgen ins Matinee-Konzert mit Haydns „Die Schöpfung“ (La Scintilla unter Riccardo Minasi), und am 29. dann nach Genf in Rameaus „Les Indes galantes“ … aber bevor ich alles vergesse, ein paar Zeilen zu den Aufführungen der letzten Tage.

Zürich, Opernhaus – 11.12.2019

Verdi: Messa de Requiem
Requiem von Giuseppe Verdi (1813-1901)

Musikalische Leitung Karina Canellakis
Choreografie und Inszenierung Christian Spuck
Bühnenbild Christian Schmidt
Künstlerische Mitarbeit Bühnenbild Florian Schaaf
Kostüme Emma Ryott
Lichtgestaltung Martin Gebhardt
Choreinstudierung Ernst Raffelsberger
Dramaturgie Michael Küster, Claus Spahn

Sopran Guanqun Yu
Mezzosopran Yulia Matochkina
Tenor Stephen Costello
Bass Georg Zeppenfeld
Ballett Zürich
Junior Ballett
Chor der Oper Zürich
Zusatzchor der Oper Zürich
Chorzuzüger
Philharmonia Zürich

Phänomenal! Das Ding wurde zum Glück am Stück durchgespielt, was etwa 90 Minuten dauerte (die Bühne beanspruchte hie und da etwas Zeit, die auf einer Tonaufnahme entfällt). Wunderbar anzuschauen, wie sich Chor, Solisten und Ballettensemble auf der Bühne gemeinsam bewegten, sich ineinander schoben, um sich in immer wieder neuen Kombinationen neu aufzustellen, von Massenszenen über Tatzelwürmer bis hin zu den grossen Solo-Auftritten für Tanz und Stimmen. Spuck begreift Verdis Requiem nicht nach dem deutschen Missverständnis als „dramatisches“ oder gar „opernhaftes“ Werk, im Gegenteil wirken seine Bilder sehr organisch mit der Musik zusammen, das Ergebnis ist eine Aufführung aus einem Guss, ein Requeiem, das ja sowieso das eines heiteren Agnostikers war (und Manzoni gewidmet war, dem Dichter und Freund, nicht etwa irgendeinem Holzjesus), das in seiner Offenheit quasi allegemeingültig, allumfassend wird, gerade in dieser Aufführung, in der Schummerlicht und Farbtöne zwischen Ocker und Schwarz dominierten. Orchester und Chor waren beeindruckend, die Solisten ebenfalls sehr gut.

Ich bin jedenfalls froh, dass ich hingegangen bin, bin ja nicht so wirklich der Ballett-Fan, aber nach dem „Mädchen“ war ich einmal mehr überzeugt (und bereue erneut, dass ich Spucks Arbeit zu Zenders Bearbeitung der „Winterreise“ verpasst habe – wenn davon, wie jetzt von Verdis Requiem – dereinst eine Wiederaufnahme folgt, gehe ich auf jeden Fall hin).

Zürich, Tonhalle-Maag – 13.12.2019

Tonhalle-Orchester Zürich
Herbert Blomstedt
Leitung

Wolfgang Amadeus Mozart Sinfonie Nr. 34 C-Dur (KV 338)

Anton Bruckner Sinfonie Nr. 4 Es-Dur «Romantische»

Der reine Wahnsinn, was an diesem Abend zu erleben war! Mit welcher Bescheidenheit Blomstedt ans Werk geht (ein Pult stand vor ihm, aber es blieb leer oder die Noten, falls sie dort lagen, unbeachtet), wie er ohne Stab und ohne grosse Gesten den überwältigenden Apparat von Bruckner ins Rollen bringt, wie quasi aus dem Kleinen das ganz Grosse erscheint – das ist unglaublich faszinierend zu erleben. Dabei gelang es obendrein, die Stimmen, die Register perfekt abzustimmen. Das Orchester sass (im Gegensatz zum Abend mit den Weilersteins, s.o.) wieder in der alten Aufstellung mit den zweiten Geigen vorne rechts, hintern den ersten die Celli und dahinter ein ganzer Wall von Bässen. Dabei war wohl gar nicht die Präzision das entscheidende, sondern die Präsenz, das gemeinsame Atmen, das über kleinste Verschiebungen, die es an diesem dritten und letzten Abend hie und da gab, locker hinweggehen konnte, ohne dass dem brillanten Resultat nur der geringste Abbruch getan worden wäre. Ich hatte die Vierte ja bei einem denkwürdigen Abend mit Bernard Haitink vor zwei Jahren schon gehört (denkwürdig, weil es der allerletzte Auftritt von Maria João Pires mit Orchester auf europäischem Boden – bisher hielt sie sich soweit ich weiss auch daran), aber nicht einmal ihm gelang es, mir das Werk wirklich zu entschlüsseln, wie es Blomstedt nun hoffentlich für alle Zeiten erledigte.

Zum Auftakt gab es davor Mozart, glänzend, durchsichtig, tänzerisch und vor allem sehr farbig. Und schon hier spielte das Orchester auf allerhöchstem Niveau. Auf jeden Fall ein denkwürdiger Abend – und wo Blomstedt in so guter Form ist (er hatte im Gegensatz zu Dohnányi oder Norrington neulich keinen Stuhl auf dem Podium, bewältigte die Stufen im Alleingang und ging dann auch noch durchs Orchester, um sich bei allen Registern bzw. ihren Solisten zu bedanken), hoffe ich natürlich auf ein baldiges Wiedersehen – denn seine Konzerte mit dem Tonhalle-Orchester gehören auf jeden Fall zum besten, was ich bisher hören konnte!

Die NZZ hat berichtet
https://www.nzz.ch/feuilleton/tonhalle-orchester-und-herbert-blomstedt-so-jugendlich-klingt-ein-rausch-in-es-dur-ld.1528099

Und auch auf Seen and Heard International ist ein Bericht erschienen:
https://seenandheard-international.com/2019/12/blomstedt-guides-a-wondrous-horn-section-through-a-stellar-bruckner-four-in-zurich/

Kammermusik-Soirée mit Martin Fröst, Roland Pöntinen und dem Carillon Qaurtett – Zürich, Tonhalle-Maag – 15.12.2019

Martin Fröst Klarinette
Roland Pöntinen Klavier

Carillon Quartett
Andreas Janke Violine
Elisabeth Bundies Violine
Katja Fuchs Viola
Christian Proske Violoncello

Claude Debussy «Première Rhapsodie» für Klarinette und Klavier
Francis Poulenc Klarinettensonate
Ernest Chausson «Andante et Allegro» für Klarinette und Klavier

Wolfgang Amadeus Mozart Klarinettenquintett A-Dur KV 581

Am frühen Sonntagabend war ich dann schon wieder in der Tonhalle – diesmal, um Martin Fröst zu hören, den ich im Rahmen eines Orchesterkonzertes (mit Coplands Klarinettenkonzert) verpasst hatte. Kammermusik – der Saal war zwar besser besetzt als üblich (vielleicht wegen des Carillon Quartetts, das aus dem ersten Konzertmeister und drei weiteren Mitgliedern des Tonhalle-Orchesters besteht?), aber warum zu Kammermusikkonzerten nicht mehr Leute gehen, ich werde es nie begreifen (Berichte sind entsprechend denn auch keine erschienen, soweit ich das überblicke).

Die erste Konzerthälfte war dem französischen Repertoire gewidmet, der Ablauf jedoch nicht ganz chronologisch. Die Rhapsodie von Debussy kannte ich natürlich, aber bisher bloss in der Fassung für Klarinette und Orchester (in der grossen Debussy-Box auf Warner wird sie wohl in beiden Versionen zu hören sein, muss ich mal nachschauen). Fröst und Pöntinen spielten das Ding in grösster Einigkeit, Fröst blätterte oft gar nicht erst in seinen Noten, bewegte sich freier als üblich, was noch die dramatische Wirkung verstärkte. Sein Ton wunderbar, agil und beweglich und doch klangschön und voll. Poulencs späte Sonate, ein klassizistisches Stück, bildete dann den Kern der ersten Konzerthälfte, die mit dem kaum aufgeführten zweisätzigen Werk von Chausson endete.

Nicht das ganze Publikum war so erfreut über diesen sehr interessanten Programmblock, wie ich in der Pause zu überhören nicht umhin kam – auch das unverständlich, aber there we go again … in der zweiten Hälfte folgte Mozarts Klarinettenquintett, dass Fröst dazu hinsitzen musste, fand ich eigentlich schade (die Streicher könnten doch auch stehen, das Cello auf ein kleines Podest?). Jedenfalls wirkte das alles schon vor dem ersten Ton in der Tat viel „klassischer“, was wohl den biedermeierlichen Eindruck des schönen Werks von Mozart noch verstärkte. Das Quartett fand ich überzeugend, vielleicht spielte Jahnke da und dort mit einer Prise Schmelz zuviel, aber alles in allem fand ich die vier und ihr Zusammenspiel wirklich gut, Linien und Motive werden herausgearbeitet, Fäden werden ersichtlich, die Gewichte zwischen den Stimmen fortwährend in einem stimmigen Einklang gehalten. Fröst hatte leichtes Spiel, er brauchte sich eigentlich nur draufzusetzen und wenn er in Dialog mit der Geige trat, machte es fast den Eindruck, als könne er ein wenig entspannen – was noch mehr der Fall war, wenn er Pause hatte.

Alles in sich total stimmig, aber für mich nach dem superben ersten Konzertteil auf hohem Niveau etwas enttäuschend, weil halt das Werk an sich eine Spur zu harmlos, zu sehr aufs innige Muszieren, das Schwelgen, und nicht etwa auf Überraschung oder gar Virtuosität aus ist. Fröst machte aber auch diesbezüglich alles richtig, spielte zurückhaltend, eine Spur kühler wohl, als üblich – denn die Wärme und die Emotionen sind ja wie immer bei Mozart eh schon da, werden sie in der Umsetzung noch betont, wirkt das rasch als ein Zuviel. Diese Falle umging Fröst souverän, das Quartett fast immer auch … aber ich hätte doch gerne mehr von der Musik gehört, die im ersten Konzertblock erklang.

(Letzteres kann ich nachholen, denn heute erstand ich die CD „Musique française pour clarinette et piano“ von Frédéric Rapin/Jean-Luc Hottinger (auf Doron mit einem wie üblich potthässlichen Cover erschienen, 2003 aufgenommen). Da sind nicht nur alle drei gespielten Werke zu finden sondern auch noch die Klarinettensonate von Saint-Saëns, die Sonatine von Honegger sowie kürzere Stücke von Debussy, Pierné und Widor.)

Neue Konzertreihe Zürich: Weihnachtsoratorium – Zürich, Tonhalle-Maag – 17.12.2019

Collegium Vocale Gent
Christoph Prégardien
Leitung
Miriam Feuersinger Sopran
Alex Potter Altus
Julian Prégardien Tenor
Peter Kooij Bass

Johann Sebastian Bach «Weihnachts-Oratorium» BWV 248
Kantaten I und II

Kantaten III und VI

Und wieder zweit Tage später, am Dienstagabend, war ich bereits zurück in der Tonhalle-Maag. Das Weihnachts-Oratorium von Bach war angekündigt, mit Hana Blazíková, die aber leider absagte – erst am Mittag des Konzertes wurde der Wechsel, ich war darüber ziemlich enttäuscht, aber Feuersinger erwies sich als perfekte Einspringerin (sie führt das Oratorium diese Tage in anderem Kontext auch gerade auf, wie ich ihrer Website entnehmen konnte).

Dass Prégardien Senior dirigierte und nicht mitsang fand ich insofern schade, als ich ihn noch nie im Konzert erlebt hatte – aber er machte eine gute Figur – und vor allem war sein Sohn als Tenorsolist wohl unter den allesamt superben Leistungen dann wohl doch derjenige, der allein schon wegen seines grossen Anteils (als Evangelist) doch ein wenig herausragte.

Der Chor kam in kleiner Besetzung, die Solisten gesellten sich dazu und brachten ihn so auf 16 Köpfe. Für ihre Soli kamen sie jeweils nach vorn oder stellten sich auch mal zu zweit auf ein Podest, das den Sopranen vorgelagert hinter den Geigen stand. Auch das Orchester war natürlich klein besetzt – und hervorragend obendrein. Die Konzertmeistern Christine Busch glänzte in der dritten Kantate in ihrem Solo, sowohl Holz- wie Blechbläser überzeugten in ihren exponierten Stellen, an der kleinen Orgel sass Maude Gratton (sie hat u.a. eine bei Mirare erschienene, exzellente CD mit Clavierkonzerten Wilhelm Friedemann Bachs vorgelegt und spielt auch mit Leuten wie Bruno Cocset oder Philippe Pierlot).

Die vier Gesangssolisten fand ich wie schon gesagt super. Kooij braucht man einem Bach-Publikum schon lange nicht mehr vorzustellen. Prégardien überzeugte sowohl stimmlich wie auch technisch: warm und kompakt klingt er, mit guter Tiefe – und obendrein meisterte er die eine Arie mit schwierigen Koloraturen mit einer lässigen Beiläufigkeit. Potter war besonders in der Arie „Schliesse, mein Herze, dies selige Wunder“ sehr berührend, seine Stimme ganz ohne die Spitzen, die bei anderen Countertenören oft das Vergnügen etwas dämmen. Feuersinger hat keine grosse Stimme, aber eine sehr schöne, schlanke, was mit ihrem schlichten, schnörkellosen Gesang eine perfekte Mischung ergibt. Sie berührt dabei mit ihrer Direktheit, ihrer völligen Ungekünsteltheit.

Was mich frappierte: Die jeweils einstündigen Blöcke des Konzertes gingen im Nu vorüber. Die Abwechslung durch die stets wechselnden Besetzungen – Choräle, Arien, Duette in stets wechselnder Begleitung, mal nur mit Continuo, mit Streichern, mit den Bläsern in allen möglichen Kombinationen usw. – und die Qualität der Musik überhaupt macht das Ganze so gut, dass ich obwohl völlig übermüdet tatsächlich gerne auch die zwei fehlenden Kantaten gehört hätte … aber auch so ein umwerfend gutes Konzert und locker das Highlight unter allen bisher gehörten „weihnächtlichen“ Konzertprogrammen (die gehörten eigentlich eh verboten, wenn es nach mir ginge), egal ob nun Regula Mühlemann oder Nuria Rial oder sonstwer geschätztes mitwirkte.

Bericht der NZZ:
https://www.nzz.ch/feuilleton/bach-weihnachtsoratorium-tonhalle-der-geist-eines-abwesenden-schwebt-im-raum-ld.1529444

Und auch hier wieder einer von Seen and Heard International (mit der ich eher nicht so ganz einverstanden bin, was Feuersinger, das Volumen – ich sass halt wie fast immer ganz vorn, gerade bei Ensembles mit Originalinstrumenten empfehle ich das sowieso immer! – und die arrogante Haltung des „what you do not know, you do not miss“ angeht – das können Sie besser, Herr Rhodes!):
https://seenandheard-international.com/2019/12/the-pregardiens-and-collegium-vocale-gent-bring-most-of-bachs-christmas-oratorio-to-zurich/

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