Antwort auf: Lesefrüchte

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hal-croves
אור

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aus dem Roman „Brasil“ von Errol Lincoln Uys:

 

Segge ließ sich sofort nieder, um die Eingeborenen zu skizzieren und zu malen, ohne auf Amadors Schmähreden über sie zu achten. Einmal jedoch wurde eines seiner Gemälde beeinflußt von dem, was Amador zu sagen hatte.

Segge hatte ein Tapuya-Mädchen an den Rand eines hübschen Teichs gestellt. Er skizzierte sie mit einem Büschel Blätter, das ihre Geschlechtsteile verdeckte, und mit der einen Hand hielt sie einen Zweig über ihren nackten Busen. Ihre Gestalt und ihre Gesichtszüge waren eine Idealisierung draller holländischer Weiblichkeit.

„Ich sehe keine Wilde“, sagte Amador geradeheraus.

Sie befanden sich in ihrer Hütte. Das Bild, das auf einer Staffelei stand, war schon weit fortgeschritten. Segge war mit Skizzen für ein Gemälde von Häuptling Nhandui beschäftigt und schien Amadors Kommentar nicht zu hören.

„Die bandeira ist wirklichkeitsgetreu“, fügte Amador hinzu. „Die Leute können sehen, wie es ist, im Wald gegen die Carijó zu ziehen. Aber das hier…“

Segge stand auf und trat an Amadors Seite. Er sagte nichts, aber sein Gesichtsausdruck wurde hart, und er mahlte langsam mit seiner Kinnlade.

„Da ist nichts Wildes dran, Segge.“

„Pah! Jeder sieht, daß sie eine Tapuya ist – eine Prinzessin der Wildnis!“

Amador lachte. „Prinzessin? Ah, Segge, wie bereit du doch bist, das Wort des jüdischen Hauptmanns für bare Münze zu nehmen. Für Rabbe ist der schlimmste von diesen Unholden König Jan. Ich nehme an, er hat dir gesagt, daß diese Wilde eine Ehrenjungfer sei – Ihre Allerköniglichste Kleine Hoheit?“

Segge umfaßte sein Kinn mit der Hand und legte die Spitze seines Zeigefingers an seine Nase. „Was fehlt denn?“

„Du malst eine Kannibalin – eine menschenfressende, knochenknackende Mutter von Heiden. Das sollst du darstellen.“

Eines Morgens, vier Wochen nach ihrer Ankunft, sah Amador, daß Segge an dem Porträt einige Veränderungen vorgenommen hatte: Ihr Bein war angewinkelt, ihr Fuß stand auf einem Stein im Bach, die eine Hand, die auf ihrem Knie abgestützt war, umklammerte eine abgeschnittene menschliche Hand. Segge hatte ihr einen Korb gegeben, den sie auf dem Rücken trug und mit einem Riemen aus Fasern, der um ihre Stirn führte, festhielt. Und aus dem Korb ragte ein menschlicher Fuß heraus.

„Bravo!“ rief Amador aus. „Genau! Eine Wilde, wie die ganze Welt sie sehen soll!“

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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=