Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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Lucerne Festival 2019

Immerhin vier mal schaffte ich es dieses Jahr ans Lucerne Festival. Einen ganzen Tag mit mehreren Konzerten oder eine Verbindung mit dem Jazzfestival Willisau stand dieses Mal nicht an, so fuhr ich halt ein wenig Zug – was seine Tücken haben kann …

Fast hatte ich den Start des Vorverkaufs verpasst und musste für einen nur mittelmässigen Platz beim letzten Konzert von Bernard Haitink ziemlich tief in die Tasche greifen (ein paar Stunden nur war ich zu spät, aber das Konzert war bald ausverkauft). Ein viertes und letztes Konzert ergab sich erst recht kurzfristig, als ich begriff, dass Montag vor zwei Wochen ein (lokaler) Feiertag war und ich also auch am Montagabend problemlos ins Konzert gehen kann (in Zürich mache ich das öfter, aber mit der Reise nach Luzern und der Heimfahrt danach wird es manchmal halt schon sehr spät).

Lucerne Festival, KKL, Luzern – 20.08.2019

Chamber Orchestra of Europe
Bernard Haitink
Leitung
Anna Lucia Richter Sopran

FRANZ SCHUBERT Sinfonie Nr. 5 B-Dur D 485 (1816)

GUSTAV MAHLER Sinfonie Nr. 4 G-Dur (1899-1901)

Das erste von Haitinks beiden Konzerten beim Festival fand schon wenige Tage nach dessen Beginn statt, auch das unter der Woche, aber ich musste natürlich zu beiden (obwohl ich Mahlers Vierte im Herbst davor schon mit Lahav Shani am Pult des Tonhalle-Orchsters und Lisa Larsson gehört hatte), und obwohl ich bei Schubert, mal von der grossen C-Dur abgesehen (siehe oben, Bologna im Juni 2019), meist unsicher bin (wenn nicht gerade Heinz Holliger zur Sache geht, für Holligers Schubert-Feyer im März 2020 in Basel habe ich schon eine Karte).

Aber gut, es ging unglaublich zart los, Haitink und das COE boten eine zurückgenommene, unendlich leise aber umso fesselndere Version der fünften Sinfonie Schuberts. Die Präzision, das kammermusikalische Zusammen, der kompakte Klangkörper, der natürlich auch satt und rund und laut klingen konnte – das war einfach nur unfassbar schön. Völlig verzaubert wankte ich in die Pause hinaus und bestellte einen Espresso, in der Hoffnung, bei Mahler nicht sanft zu entschlummern. Doch da bestand keine Gefahr, denn auch diese Aufführung war unglaublich fesselnd, ja geradezu magisch. Anna Lucia Richter (deren Schubert-Album „Heimweh“ vom letzten Jahr mir enorm gefällt) war superb, die (nur relativ) kleine Besetzung tat dem Werk gut, doch das Orchester wirkte in der Tat fast wie ein anderes und die Aufführung von Mahlers Vierter war unfassbar gut – hier gibt es eine ausführliche Rezension des Konzertes, die zu Mahler auch die Worte findet, an denen es mir – auch wegen mangelnder Vertrautheit mit der Vierten, mit Mahler überhaupt – fehlt:
https://seenandheard-international.com/2019/08/one-final-mahler-from-haitink-in-his-second-to-last-lucerne-concert/

Lucerne Festival, KKL, Luzern – 25.08.2019

Igor Levit Klavier

LUDWIG VAN BEETHOVEN
Klavierosnate Fis-Dur Op. 78 (1809)
Klaviersonatate Es-Dur Op. 7 (1796/97)

Klaviersonate E-Dur Op. 14 Nr. 1 (1798)
Klaviersonate G-Dur Op. 14 Nr. 2 (1798)
Klaviersonate Es-Dur Op. 81a „Les Adieux“ (1809/10)

Der zweite Besuch fand am Sonntag statt, an dem in Zug – auf halber Strecke also – auch das Eidgenössische Schwingfest stattfand, der wohl unförmigste Auswuchs der Flucht in die Märchen der erfundenen Traditionen, die in der städtischen Schweiz seit einigen Jahren so blüht. Der Zug also ziemlich gut gefüllt bis sich das Publikum der Konzertbesucher von den Heimatfans trennen durfte … doch dann blieb der Zug stehen bzw. rollte nur noch im Schritttempo dahin, und einige Kilometer vor Luzern folgte die Durchsage, dass der Zug ausfalle und man bitte auf den nächsten warten soll, der erst mit einiger Verspätung kam – was dazu geführt hätte, dass man in Luzern unter normalen Umständen erst nach der ersten Sonate in den Saal gelassen worden wäre. Doch ein paar Leute riefen wohl beim Festival und in der Tat: man wartete auf die Dutzenden Leute aus Zürich (ohne die das KKL eh gar nicht stattfinden könnte, seien wir ehrlich), und so begann Levits Konzert mit einer Viertelstunde Verspätung.

Auf dem Programm dieses zweiten Konzertes im Rahmen seines vollständigen Beethoven-Zyklus‘ in Luzern 2019/20 und 2020/21 stand eine Mischung von Sonaten, die für den privaten aber auch den öffentlichen Raum komponiert wurden: Opp. 7 und 14 widmete Beethoven zwei verschiedenen Schülerinnen, Op. 78 hingegen ist deutlich anspruchsvoller, während Op. 81a seinem Gönner und Klavierschüler Erzherzog Rudolph gewidmet ist, der sich mit seiner Familie 1809 aus dem belagerten Wien zurückziehen musste. (Das erste Konzert von Levit wäre am Abend nach dem ersten Haitink-Konzert gewesen, das lag schlicht nicht auch noch drin.)

Levits Darbietungen mögen nicht immer völlig schlüssig sein, doch sie scheinen mir stets interessant und halten da und dort auch eine Überraschung bereit. Mal scheint er mit der Lupe hinzuschauen, quasi ein Zoom in die Musik hinein zu bieten, dann nimmt er diese mit höchster Konzentration auseinander, zerlegt sie in seine Einzelteile. Darob geht hie und da wohl der Blick aufs Ganze ein wenig verloren oder die Tempi sind nicht mehr perfekt gewählt – aber dennoch: total faszinierend! Er entlockt dem Flügel auch eine breite Palette an Farben, die dem Reichtum von Beethovens Musik durchaus angemessen ist. Als Zugabe spielte er dann „Guernica“ von Paul Dessau, natürlich nicht, ohne ein paar Worte an das Publikum zu richten.

In der NZZ erschien eine Doppelrezension zu den beiden Rezitalen:
https://www.nzz.ch/feuilleton/lucerne-festival-existenzielle-erfahrung-die-zu-toenen-wird-ld.1504273

Nach dem Konzert ging noch ins ebenfalls im KKL beheimatete Kunstmuseum Luzern und guckte die Jubiläumsschau Turner: Das Meer und die Alpen sowie die aktuelle Sammlungsschau an (die Räume sind recht klein, auch die Bestände der Sammlung werden laufend neu sortiert/präsentiert). Turner kam ich dadurch nicht unbedingt näher, dass die Sammlungsschau aber gerade einen Fokus auf die Schweiz um 1800 legte, als die Fake-Traditionen mitten in ihrem Entstehen waren, Herrschaften sich und ihre Angetrauten in Tracht portraitieren liessen, dass es sogar auch ein Gemälde eines Schwingfestes (auf einer schlichten Alpwiese, ohne Heineken-Stand, wie die das bloss überlebt haben?) gab, war natürlich besonders passend, denn im Zug zurück sass ich bald wieder unter Leuten, die vorzeitig vom Schwingfest heim fuhren und natürlich nur ein Gesprächsthema hatten (es sei denn, sie daddelten auf ihrem Handy und waren zu blöd, sich um ihre Kinder zu kümmern) (panem et circenses II).

Lucerne Festival, KKL, Luzern – 06.09.2019

Wiener Philharmoniker
Bernard Haitink
Leitung
Emanuel Ax Klavier

LUDWIG VAN BEETHOVEN Klavierkonzert Nr. 4 G-Dur Op. 58 (1805/06)

ANTON BRUCKNER Sinfonie Nr. 7 E-Dur WAB 107 (1881-83) (ed. Nowak)

An diesem Freitag (das ist auch mein freier Tag, mach das regelmässige Konzertgehen wesentlich einfacher!) fand ich dann doch noch etwas, was ich vor dem Konzert machen konnte. Im Rahmen des Festivals führte das Luzerner Theater Ruedi Häusermanns Tonhalle: Eine musiktheatralische Selbstbehauptung wieder auf, ein Stück, das zuerst im Rahmen der Münchener Biennale für Neues Musiktheater (Ko-Produktion mit dem Festival Rümlingen und der KlangKunstBühne der Universität der Künste Berlin) aufgeführt worden war. Ein äusserst heiteres Stück, das den Kulturbetrieb und seine Auswüchse auf die Schippe nimmt, aufgeführt in der kleinen „Tonhalle“, die unter dem riesigen Vordach des KKL installiert wurde und für knapp 20 Leute Platz bietet (siehe Foto).

Nach einer längere Pause ging es dann ins Konzert, draussen standen Leute, die Karten suchten, doch eben: seit Wochen oder Monaten schon war das letzte Konzert von Bernard Haitink ausverkauft. Ganz oben der Blick von meinem teuren aber nicht so suprigen Platz (weil drunter die Scheinwerfer hängen, die heizen und die Luft flirren machen).

Los ging es mit Beethovens viertem Klavierkonzert. Eigentlich war dafür Murray Perahia angekündigt, doch der sagte ab und wurde von Emanuel Ax ersetzt. Die Aufführung wirkte eher professionell als leidenschaftlich, etwas kühl, etwas viel Routine. Doch zur Sache ging es dann bei Bruckner, dessen Siebte Haitink mit geschlossener Partitur auf dem Pult dirigierte, stets die grossen Bögen im Blick, aber dennoch auch mit einem unglaublichen Gespür für Details, für den Aufbau der Klänge, das Miteinander der Stimmen. Der Streicherklang der Wiener Philharmoniker war in der Tat unglaublich schön, wurde dem Ruf also absolut gerecht. Das Orchester sah ich zum ersten Mal im Konzert – ich machte mich drüben ja lustig darüber, dass nach wie vor fast keine Frauen mitwirkten, zwei an Blasinstrumenten waren es und fünf oder sechs bei den – vornehmlich oder ausschliesslich – zweiten Violinen (die hier übrigens nebeneinander sassen, auf der anderen Seite an der Bühnenkante eben die Bratschen, die Celli dahinter, wenn mich nicht alles täuscht). Toll aber auch die Blechbläser, die Wagner-Tuben und das ganze Brimborium – herzhaft gespielt, aber auch stets mit dem richtigen Gefühl dafür, wie viel es leiden mochte. Wie schon bei Mahler und auch bei Schubert beim Konzert davor ein unfassbar tolles Erlebnis.

Andere, berufenere, haben ausführlicher berichtet:
http://www.peterhagmann.com/?p=2339
https://www.nzz.ch/feuilleton/bernard-haitink-beendet-am-lucerne-festival-seine-grosse-karriere-ld.1506703
https://seenandheard-international.com/2019/09/lucerne-sees-the-final-farewell-from-bernard-haitink-after-65-extraordinary-years-of-conducting/

Lucerne Festival, KKL, Luzern – 09.09.2019

London Symphony Orchestra
Simon Rattle
Leitung
Barbara Hannigan Sopran

HANS ABRAHAMSEN let me tell you (2012/13)

OLIVIER MESSIAEN Éclairs sur l’Au-Delà … (1987-91)

Das war noch nicht das Ende – denn wie gesagt, der 9.9. hier ein Feiertag (den gibt es immer Anfang September, es wird auf von Knaben geschossen, drumherum ist Kirmes – da sind wir wieder: panem et circenses III. Also ging es noch einmal nach Luzern, und zwar zum LSO mit Simon Rattle – die Kombination hörte ich in der Tonhalle mit der Neunten von Mahler in einem unglaublich guten Konzert, über das ich hier wohl nicht schrieb, und letzten Sommer war ich in Luzern, als Rattle Stockhausen und ebenfalls schon Messiaen dirigierte).

Hannigan und Messaien waren die Anziehungspunkte für mich. Hannigan hatte ich in der Tonhalle einst in Doppelrolle gesehen – gut gesungen, mittelmässig dirigiert bzw. ohne klare Sicht auf die gebotenen Werke, so dünkte es mich damals. Doch ihre CDs der letzten Jahre finde ich ausnehmen super, auch die mit „let me tell you“, dem Ophelia-Werk, das Hans Abrahamsen ihr auf den Leib komponiert hat. Unglaublich die Reichweite ihrer Stimme, die Beherrschung in den höchsten Lagen, und auch in den leisesten Schattierungen. Der Liedzyklus war verzaubernd, ja fast schon magisch, und darin eine angemessen Fortsetzung der Erlebnisse mit Haitink in den Wochen und Tagen davor. Neben mir sass ein Herr, der mich in der Pause ansprach, er erzählte, seine Frau betreue Hannigan (ich weiss nicht, ob nur in Luzern oder auf der ganzen Tour, er sprach jedenfalls englisch), und man sei der Meinung, das soeben sei die beste Aufführung des Werkes überhaupt gewesen.

Nach der Pause folgte ein grosser Brocken Messiaen, da war die Bühne dann auch wirklich voll (siehe Bild). Rattle gelang es einmal mehr, das Ding so zu wuppen, als sei es ein längst im Repertoire verankertes Stück, als gäbe es nichts Normaleres. Ich war auch an diesem Abend mal wieder zu müde (frei hin oder her), doch in beiden Konzerthälften sass ich fasziniert und hellwach da. Am Ende war ich völlig geplättet, das LSO bot zwei unglaublich gute Performances, auch in der riesigen Besetzung bei Messaien schien es oft, als sässe da eine kleine, eingeschworene Gruppe, die bis zum Atmen alles gemeinsam und in vollstem Verständnis tue. Rattle scheint die Musik Messaiens, dessen letztes, überkragendes Monumentalstück voller Vogelstimmen und ungewöhnlich besetzter Teile, fast schon zu bewohnen. Phänomenal!

Hier eine Besprechung desselben Programmes, zwei Tage später in Berlin:
https://seenandheard-international.com/2019/09/simon-rattle-brings-the-lso-to-berlin-with-a-magnificent-programme-of-abrahamsen-and-messiaen/

Fazit: ich werde das Lucerne Festival auch künftig im Auge behalten … die Distanz ist in Ordnung für ein paar Besuche und die Preise, wenn man früh genug dran ist, sind auch nicht allzu übel (aber unter einem doch etwas niedrigen nächsten Balkon sitzen, wie bei Hannigan/Rattle, möchte ich doch lieber nicht mehr, das war akustisch nicht gerade von Vorteil … besser seitlich auf den Galerien, wie ich es bei Levit und dem zweiten Haitink-Konzert tat, oder halt ganz zuoberst auf der Tribüne im vierten Rang, wie bei Haintinks erstem Konzert).

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