Antwort auf: Jazz: Fragen und Empfehlungen

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gypsy-tail-wind
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thesidewinder
Ich höre gerade zum ersten Mal überhaupt etwas von Don Cherry und bin ziemlich geflasht. Das hat mit herkömmlichen Jazz nicht mehr viel zu tun aber ich finde es ziemlich fesselnd. Bei Discogs erschlägt mich die Fülle an Veröffentlichungen etwas, von daher wäre ich für ein paar Empfehlungen dankbar. Ich möchte erst mal mit den „Basics“ anfangen, also wenn es geht Alben die ich ganz normal bei Amazon & Co. kaufen kann.

Was hörst Du denn? Denn die Blue Notes (die ersten zwei sind wärmstens empfohlen, „Complete Communion“ und „Symphony for Improvisers“) und auch andere feine Alben von Cherry haben sehr viel mit „herkömmlichem Jazz“ zu tun … Cherry selbst steht als Trompeter auch in einer Linie, die eher zu alten Jazz als zum Bebop zurück geht. Aber späteren Sachen, wo er teils ja auch kaum noch Trompete spielt, hört man das natürlich nicht an.

Neben den zwei gerade genannten (1965/66 aufgenommen) ist auch die dritte Blue Note („Where Is Brooklyn?“, auch 1966) empfehlenswert, ebenso die drei Volumen „Live at Café Montmartre 1966“ auf ESP-Disk‘. Wenn es lärmiger sein darf, die MPS-Scheibe „Eternal Rhythm“, wenn es lärmig bereits mit stärkerer Tendenz zum „World-Cherry“ sein darf auch die hervorragende Archivveröffentlichung aus Schweden, „Live in Stockholm“ (Caprice). Da kippt es dann in andere Welten, aber auf einem Album wie „Mu“ im Duo mit Ed Blackwell ist der Jazz natürlich trotzdem noch da. Auf den „Sonet Recordings“ oft eher weniger, „Blue Lake“ mit Okay Temiz und Johnny Dyani oder „Underground“ von The Third World (=Abdullah Ibrahim, Cherry, Carlos Ward) verfolgen diese Fährte weiter, die via „Organic Music Society“ dann Ende der Siebziger auch zu Codona führte (gibt es bei ECM als 3-CD-Set).

Mitte der Siebziger gibt es aber auch „Brown Rice“, auf dem Label des erzkonservativen Kommerzlers Herb Alpert erschienen (war der damals schon tot oder wie konnte es zu dem Betriebsunfall kommen?). Ein weiteres tolles Album, das dann die Rückkehr zum (akustischen) Jazz markiert, ist „Art Deco“, mit dem legendären James Clay am Tenorsaxophon. Ungefähr um die gleiche Zeit wirkte Cherry auch bei den Montréal-Auftritten von Charlie Haden mit und die entsprechende CD aus der Reihe „The Montréal Tapes“ (Trio mit Ed Blackwell) ist auch fein. 1982 gab es mit Blackwell für ECM auch nochmal ein Duo („El Corazón“), schon 1980 wirkte Cherry mit einer europäischen Free Jazz Supergroup (John Tchicai, Irène Schweizer, Leon Francioli, Pierre Favre) mit, „Musical Monsters“, deren Live-Auftritt in Willisau vor ein paar Jahren bei Intakt erschienen ist. Europäer waren aber bei Cherry schon früh willkommen, besonders Karl Berger spielt ja schon zu Blue Note-Zeiten mit und die Band im Montmartre bestand neben Cherry, Berger und Gato Barbieri aus Bo Stief (b) und Aldo Romano (d).

Den Grundstock für all das bildet aber letzlich wohl schon das phänomenale Quartett von Ornette Coleman, dessen Atlantic-Alben immer noch greifbar sein sollten (am besten gleich die in zweiter und günstiger Auflage vorliegende 6-CD-Box „Beauty Is a Rare Thing“ suchen, da ist alles drin, auch die drei Alben, die später mit weiterem Material von den Sessions zusammengestellt wurden, keinesfalls Resterampen). Mit Coleman spielte Cherry auch Ende der Sechziger nochmal („Crisis“, das Album ist endlich wieder greifbar auf einem Twofer mit „Ornette at 12“, Real Gone Music, einst Impulse, Ornette selbst wollte die Musik nicht wieder aufgelegt sehen und so bleibt der Rest des Materials im Schrank und das Reissue konnte erst nach seinem Tod erfolgen). Bei den „Science Fiction Sessions“ (die „Complete SF Sessions“ Doppel-CD ist für einmal „greater than the sum of its parts“) war Cherry auch wieder dabei, und 1987 kam es für „In All Languages“ noch zu einer Reunion des Coleman Quartetts (leider im 80er-Plastic-Sound).

Ein weiterer sehr zu empfehlender Sideman-Auftritt ist „Song for Biko“ von Johnny Dyani (Steeplechase). Und dann ist da natürlich das erste Liberation Music Orchestra von Charlie Haden (Impulse, 1969), beim zweiten (ECM, 1982) war Cherry wieder dabei und es ist vielleicht fast noch toller. Und auch mit Haden die Ornette Revival-Band Old and New Dreams (Blackwell und Dewey Redman waren die anderen an Bord, zwei Alben gibt es in der Haden Black Saint-Box, zwei weitere bei ECM).

Da sollte sich einiges drunter befinden, was man noch einfach kriegt, hoffe ich … das Problem an der heutigen Zeit ist ja gerade, dass auch „Basics“ oft nicht mehr regulär zu kriegen sind (von Apple/Amazon/Streaming abgesehen).

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