Antwort auf: Molly Tuttle

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go1
Gang of One

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herr-rossiAngesichts ihres beeindruckenden Gitarrenspiels wäre es ja verständlich gewesen, wenn sie ein puristisches Bluegrass-Album gemacht hätte, aber das ist „When You’re Ready“ – für mich erfreulicherweise – nicht. Ein schönes Singer/Songwriter-Album. Und „Light Came In (Power Went Out)“ wäre zu anderen Zeiten ein Radiohit gewesen ….

Seh‘ ich auch so, wobei When You’re Ready nicht nur kein puristisches, sondern überhaupt kein Bluegrass-Album ist – aber das hatte sie ja angekündigt („rock-oriented“, „with electric guitar and drums on everything“). Es stellt ihren bisherigen claim to fame (virtuoses Gitarrenspiel kombiniert mit entspanntem Gesang) nicht in den Vordergrund, sondern präsentiert sie in erster Linie als Sängerin und Songschreiberin. Gerade als Sängerin hat sie sich weiterentwickelt (die hohe Stimmlage zum Beispiel von „Don’t Let Go“ und „Sleepwalking“ hatte ich vorher nie von ihr gehört). Und sie hat elf wohlgeformte Songs versammelt, die melodisch ansprechend sind (mindestens die Refrains sind stets einprägsam, oft auch die Strophen). Storytelling oder Charakter-Portraits scheinen weniger ihr Ding zu sein, sie singt meist über Beziehungskisten und Gefühle (oft Bedauern und Sehnsucht, sonst auch Unsicherheit oder Ärger), was weiten Teilen des Albums etwas leicht Melancholisches und Introvertiertes gibt – das finde ich ja ansprechend. Ausbalanciert wird das durch ein paar kraftvolle und entschlossene Tracks. Und ja, im passenden medialen Umfeld hätte „Light Came In (Power Went Out)“ tatsächlich Hit-Potential.

Ich kann verstehen, wenn jemand sich mehr Tracks vom Schlage „Take the Journey“ wünscht, mit einem prominenten und aufregenden Gitarrenpart, aber ich denke nicht, dass Molly Tuttle ihr Licht als Gitarristin hier unter den Scheffel stellt. Ihre akustische Gitarre ist immer noch die Basis der meisten Tracks, niemand wird ihren Part überhören, nicht einmal, wenn sie Kris Donegans elektrischer Gitarre den Vortritt lässt, und sie spielt in jedem Stück etwas Interessantes und Musikalisches, es ist eben alles strikt songdienlich. Songdienlich sind auch die Arrangements und das Spiel der Band, die den Sound mit Klavier und Orgel und dezenten Streichern anreichern (Sierra Hulls Mandoline ist auch ein willkommener Gast) und den Songs, die das brauchen, Kraft und Nachdruck verleihen. „Light Came in“ wird so gut aufgebaut, aber gerade das Finale des Albums wäre ohne diese zusätzliche instrumentale Feuerkraft wohl nicht möglich (während „Light Came In“ auch solo auf der akustischen funktioniert, siehe oben, kann ich mir „Sit Back and Watch It Roll“, dieses schwere, kraftvolle Stück Americana, ohne die elektrische Gitarre nicht vorstellen, und auch der schöne Aufschwung von „Clue“ dürfte in reduzierter Besetzung schwer zu realisieren sein).

Insgesamt finde ich das Album ziemlich großartig. Mir gefallen sämtliche Tracks, vor allem „Million Miles“, „Take the Journey“, das Titelstück, „The High Road“, „Light Came In“, „Messed With My Mind“ und „Clue“.

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To Hell with Poverty