Antwort auf: 2018: Jazzgigs, -konzerte & -festivals

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WIM, Zürich – 21.09.2018

1. Set: Eve Risser – Klavier / Marco von Orelli – Trompete
2. Set: Pascal Niggenkemper – Bass / Ricardo Jacinto – Cello / Félicie Bazelaire – Bass

Am Wochenende, an dem das Moods wieder seine Pforten öffnete, fand in der WIM, der kleinen Werkstatt für Improvisierte Musik, ein mehrtätiges Festival zum 40. Geburtstag der kleinen, aber für die Szene wichtigen Spielstätte statt (die auch Übungsräume und sonstige Infrastruktur bietet). Doch am Freitag musste ich zu Rhoda Scott (siehe oben), Samstag war anderweitig verplant und am Sonntag ging es zu Jordi Savall. Auch dieses Wochenende war das Programm wieder dicht. Zum Glück trat Haitink in der Tonhalle nur zweimal auf (Mittwoch und Donnerstag), statt wie oft üblich dreima, also lauch noch am Freitag, den ich dann bevorzugt wähle. So hatte ich am Freitag Zeit, wieder einmal in die WIM zu gehen, um mir zwei kleine Formationen um Eve Risser bzw. Pascal Niggenkemper anzuhören. (Ich verpasse deswegen aber das Gamut-Festival, organisiert vom gleichnamigen Kollektiv, zu dem u.a. der Trompeter Silvan Schmid oder die Musiker der Band District Five gehören … auch hier: Samstag hatte ich andere Pläne.) Ein geschäftiger Saison-Auftakt also, der heute und morgen im Opernhaus weitergeht, mit einem Liederabend von Anna Stéphany bzw. einer Oper von Vivaldi.

Das erste Set mit Eve Risser am präparierten Klavier und Marco von Orelli an der Trompete ging verhalten los und es dauerte, bis das Duo in Fahrt kam. Doch, das zeigte sich im Verlauf des Abends, passte das ganz gut. Orelli blies Luft durchs Mundstück, spielte ganz leise, zarte Töne, die man nur in so kleinem Rahmen überhaupt richtig hören kann. Risser legte verchiedenste Materialien auf die Saiten, bearbeitete sie mit Schlägeln und Sticks, auch der Kasten und der hochgeklappte Deckel des kleinen Flügels kamen zum Einsatz, ein paar kleine elektronische Geräte lagen auf den Saiten, die für ein Surren und Summen sorgten. Richtung hatte das Set eigentlich nicht, es passierte halt einfach was, streckenweise passierte auch nichts, die Musik ging weiter, aber schien stehen zu bleiben. In der zweiten Hälfte wurde es lauter, etwas intensiver und am Ende war es doch ganz rund.

Rund war auch die Aufstellung der Stühle, die aber (wohl auch wegen dem erwähnten Gamut-Festival) ziemlich leer blieben: neben den fünf Musikern und dem Bekannten aus der Schulzeit, der seit ein paar Jahren das Programm der WIM gestaltet, waren gerade mal fünf Leute da, unter ihnen auch Musikerinnen. Allerdings operiert die WIM seitdem ich mich erinnern kann grundsätzlich unterhalb der Schwelle der (Medien-)Wahrnehmung. Doch ein Besuch lohnt immer, denn es ist ja auch ein grosses Privileg, Musik bei ihrem Entstehen, aus solcher Nähe zu beobachten.

Für das zweite Set stellten und setzten sich die drei Streicherinnen und Streicher in die Mitte des Raumes und das Publikum verteilte sich nun wirklich runherum. Das Set verlief im Ganzen umgekehrt zum vorigen, begann relativ laut und intensiv und endete nach einer Dreiviertelstunde ganz leise. Die drei hatten diverse Gerätschaften dabei, auch kleine, vermutlich selbst gebastelte Motörchen mit einem drehenden Blatt daran, das sie auf die Stege oder extra angebrachter Vorrichtungen an ihren Instrumenten stellten und dann am Gehäuse, an der Rückseite des Griffbretts oder auch von hinten an den Saiten schaben liessen. Niggenkemper hatte natürlich seine Trichter dabei, er und Cellist Jacinto ein paar Effektpedale mit. Das Cello klang manchmal wie eine verzerrte Gitarre, es wurde dazu geschabt und geklopft, im Gegensatz zum ersten Set war ich sofort drin im Strom der Klänge. Bazelaire, die ich in Mulhouse mit der etwas enttäuschenden grossen Formation um Jacques Di Donato und Xavier Charles gehört hatte (wo sie, wie mir schien, sich mehr oder weniger an die Fersen des stets souveränen Benjamin Duboc geheftet hatte), spielte den Bass auch konventionell gezupft (die Bögen kamen bei allen dreien regelmässig oder überwiegend zum Einsatz). Und ganz wie das erste Set allmählich an Fahrt gewann, wurde das zweite im Verlauf weniger dicht, stiller, bis es ganz verklang. Dass die zwei Sets einen so schönen Bogen bildeten, die zweite Gruppe wohl irgendwie (vermutlich spontan/unwillkürlich) auf das erste Set reagierte, gefiel mir ganz ausserordentlich. Und auch so etwas erlebt man wohl dermassen deutlich nur in diesem Rahmen, wo die Musikerinnen und Musiker den anderen jeweils auch zuhören (und rausgehen geht natürlich nicht bzw. würde massiv stören, man bleibt also sitzen, egal was – oder was nicht – kommt. Und man zückt auch nicht das Handy, denn allein schon das blaue Licht würde die Intimität des Augenblickes stören … nicht bei allen Konzerten, aber am Freitag kam das gar nicht in Frage).

Möge die WIM auch die nächsten 40 Jahre weiterbestehen!

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