Antwort auf: 2018: Jazzgigs, -konzerte & -festivals

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Jazzfestival Willisau – Festhalle, Willisau, 29.08.2018

Erb/Baker/Rosaly
Christoph Erb (ts, ss), Jim Baker (p, arp), Frank Rosaly (d)

Mit einiger Verspätung möchte ich doch noch ein paar Zeilen schreiben zum Eröffnungsabend des diesjährigen Jazzfestivals Willisau. Mit dem Festival selbst werde ich nicht wirklich warm, was an der Form liegt. Mittwoch bis Freitag jeweils zwei Konzerte am Abend, erst dann folgen auch noch Nocturnes (die eher an den Rändern des Jazz angesiedelt sind, aber das an sich ist keineswegs negativ) und die „Intimities“, die morgendlichen Solo- oder Duo-Konzerte auf der Rathausbühne (ich berichtete in den Vorjahren). Samstag gibt es dann auch noch ein Nachmittagskonzert und Sonntag endet das Festival mit dem Nachmittagskonzert. Das ist mir etwas zuwenig dicht, zugleich ist der Ort zu abgelegen, um abends wieder nach Hause zu fahren (das hätte nach Ulmer/The Thing wohl noch knapp gereicht, mit mehrmaligem Umsteigen und es wäre dann halt auch wieder so spät, dass man am nächsten Morgen zu kämpfen hätte). Campieren kommt bei mir nicht in Frage, ein Zimmer findet man schon, aber das ganze wird dann ordentlich teuer … kommt dazu, dass ich das Line-up der einzelnen Abende (eben: nur zwei Bands) längst nicht immer überzeugend genug finde, um das alles in Kauf zu nehmen.

Das wäre mir vielleicht auch dieses Jahr so ergangen, wenn ich nicht – bereits im Hinblick auf den geplanten Besuch in Willisau – die Musik von Christoph Erb entdeckt hätte, der mit seinem Label Veto Records sehr aktiv ist. Entdeckt habe ich ihn aber – und darum sind Label halt auch heute manchmal noch von Nutzen, Visitenkarte und so – mit seiner bei Hat Hut erschienen Trio-CD „… don’t buy him a parrot …“ mit demselben Line-Up, das für Willisau angekündigt war. Den Veteranen Jim Baker (Piano und Synthesizer) kannte ich immerhin vom Album der Gruppe Witches and Devils „At the Empty Bottle“ (Knitting Factory, rec. 1997). Da ist er mit Ken Vandermark, Mars Williams, Fred Lonberg-Holm, Kent Kessler und Steve Hunt zu hören – eine interessante Mischung aus dem alten Hal Russell-Umfeld und den Leuten, die der äusserst umtriebige VDMK um sich sammelt (Lonberg-Holm kennt man überdies z.B. auch von Brötzmanns grossartigem Chicago Tentet). Auf Hat nun ist der akustische Teil der Session erschienen – es gibt also mehr, namentlich zunächst eine elektrische Hälfte derselben Session (auf der Baker, wie ich es kenne, am analogen Synthesizer zu hören ist). (Beim Orchester des explodierenden Sterns wirkt Baker auch mit, aber die Alben sind mir leider noch immer nicht sehr vertraut.)

Das „Mehr“ ist in diesem Fall eine Reihe mit inzwischen weit über einem Dutzend Veröffentlichungen, Veto Records/Exchange heisst die Reihe, die Erb auf seinem Label herausbringt und in der Regel kleine Combos mit verschiedenen Musikern und einer Musikerin aus Chicago, die Erb dort bei verschiedenen längeren Besuchen ins Studio holt. Dabei sind u.a. der Josh Berman am Kornett, der Saxophonist und Klarinettist Keefe Jackson, der Cellist Fred Lonberg-Holm, die Cellistin Tomeka Reid, der Vibraphonist Jason Adasiewicz, der Bassist Jason Roebke und die Schlagzeuger Frank Rosaly und Michael Zerang. Auch ein Auftritt aus Willisau ist bei Veto/Exchange erschienen, bei dem Luzern mit dem Tubisten Marc Unternährer, dem in Luzern wirkenden Pianisten/Komponisten Hans-Peter Pfammatter und der Sängerin Isa Wiss vertreten ist (Erb ist nicht dabei), zudem kannte ich schon länger die jüngste CD des Trios Wintsch/Weber/Wolfahrt, die aus dem (Chicago-)Rahmen fällt, wie es letztlich auch die jüngste, auf der Website noch nicht aufgeführte 16. CD tut, die Erb im Duo mit dem Drummer Michael Vatcher präsentiert. Nachdem es mir im Verlauf des Sommers gelungen war, auch die drei komplett vergriffenen CDs der Serie zu erstehen und ich inzwischen über die Hälfte von ihnen mit Genuss angehört habe und Erbs Musik – er selbst ist auch Solo-Album vertreten – dabei kennen und schätzen lernte, freute ich mich sehr auf den Abend in Willisau (und konnte vor dem Konzert am von den guten Leuten von Intakt geführten CD-Stand auf dem Festivalgelände auch noch die brandneue CD von Erb/Vatcher erstehen).

Allein schon Jim Bakers Synthesizer auf der noch abgedunkelten Bühne, neben dem Flügel aufgebaut, so dass er auf vom Klavierhocker aus beide Instrumente spielen konnte, machte einiges her, in der noch leeren Halle (Foto ganz oben). Es ging verhalten los, ein Summen vom Synthesizer, ein Rascheln auf den Fellen, einzelne Töne vom Tenorsaxophon, das bald gestopft wurde (wie ich es schon bei einem Luzerner der älteren Generation sah, von dem ich übrigens dieses Jahr am Météo in Mulhouse zum Festivalpass eine Solo-CD erhielt: Urs Leimgruber). Man lehnt sich also mal zurück, wartet, lauscht, das Geschehen auf der Bühne verdichtet sich unmerklich – man fragt sich: wie kamen sie jetzt an diesen Punkt? Hat man etwas verpasst? Doch nein, der Flow ist gut, Rosaly immer noch leise aber immer geschäftiger, der Synthesizer sirrt und flirrt, brummt, zirpt. Und dann ein Kürzel des Saxophons, eine Art Weckruf, der aber nur verdeutlicht, wie sehr das Geschehen längst an Fahrt aufgenommen hat. Später wechselt Erb ans Sopransaxophon, seine Bassklarinette hat er leider nicht dabei (auf den beiden Alben mit Baker/Rosaly spielt er diese und das Tenor). Das Set gelingt am Ende sehr, sehr gut – gerade darin, wie behutsam die drei zugange sind, wie sie den Dingen Zeit lassen und keine forcierte Beschleunigung inszenieren, scheint sich auch der freie Spirit aus Chicago zu zeigen, der wohl längst zu Erbs Spielhaltung gehört. Eine tolle Eröffnung für das Festival, nachdenklich, offen, am Ende aber vor allem eine runde Sache, ein grosser Bogen, der sich am Ende schliesst.

James Blood Ulmer with The Thing
James Blood Ulmer (g), Mats Gustafsson (ts, as), Ingebrigt Haker Flaten (b), Paal Nilssen-Love (d)

Der Anlass für den Besuch in Willisau war, ich tönte es an, natürlich die Chance, James Blood Ulmer einmal live zu hören. Er kam zusammen mit The Thing, dem skandinavischen Power-Jazz-Trio, das ich bisher einmal mit Joe McPhee im Konzert hören konnte. Vornweg: Ich fand das Konzert bewegender, lebendiger als das kurze Set aus Molde, das neulich auf CD erschienen ist – und ich teile die Totalkritik der NZZ nicht (Florian Bissig lobt allerdings das Erb/Baker/Rosaly-Set sehr, die Überschrift im Print am 1.9. lautet „Wenn die Altstars enttäuschen, schlägt die Stunde der Newcomer“ – was für Erb jetzt auch nicht sooo schmeichelhaft ist, er ist ja doch schon eine Weile im Geschäft, und dass ich mir dessen nicht so richtig bewusst war, heisst ja nicht, dass die professionelle Kritik das ebenfalls nicht zu wissen hat).

Dabei ist vielleicht die Beobachtung aus der Rezension zutreffend, dass Ulmer „nicht viel mehr als Rudimente von Motiven“ brachte, auf seiner nur in Grundtönen und Quinten gestimmten Gitarre, die er oft durch ein Wah Wah-Pedal hindurch spielte. Doch für mich passte das Resultat: The Thing machten mehr oder weniger ihr Ding, nachdem sie Ulmer zunächst einmal den Einstieg hatten machen lassen (Gustafsson genoss es sichtlich, siehe erstes Foto) und dann aber rasch verdichteten und mit ihrer geballten Power losrockten. Dabei war allerdings – zum ersten Mal, dass ich das in Willisau erlebte – der Sound in der Halle ziemlich bescheiden. Haker-Flaten war zwar sehr aktiv, aber die halbe Zeit konnte man das nicht einmal fühlen, vom Hören ganz zu schweigen. Auch das Saxophon ging in den Gitarrenkaskaden und den Klangwellen der Becken öfter halb unter – als hätte man gar nicht erst versucht, die Instrumente irgendwie zu treffen, bevor man dann wieder zusammenmischt (und ein guter Mischklang klingt auch sehr anders). Für mein Empfinden war das ein tolles, druckvolles Set, das zugegebenerweise nicht mit viel Abwechslung aufwartete (aber dann muss man auch nicht zu The Thing, die Abwechslung dort wäre höchstens mal noch Ähnliches mit E-Bass statt mit Kontrabass), das aber ebenfalls wieder eine Runde Sache war. Die Klangwellen, die immer wieder über die Bühne schwappten, waren bei aller Virtuosität (die vor allem von der Rhythmusgruppe ausging, PNL ist bestimmt einer der grossartigsten und intensivsten Trommler unserer Tage, wenngleich natürlich keiner, der im Kern die grossen Linien des Jazzschlagzeugs fortführt, eher steht er in der Linie der europäischen Improvisation) von einer so rohen, ja urchigen Kraft – das allein hätte bei besseren Klangverhältnissen wohl schon kathartische Wirkung entfalten können. Wie es war, war es aber auch gut – eine Art frei rotierender, rockig-gradliniger Power-Jazz, vermählt mit Ulmers Blueskaskaden. Dass er nicht sang (einmal nahm er einen halbherzigen Anlauf) fand ich nicht weiter bedauerlich – im Gegenteil, seine musikalische Präsenz allein war schon ziemlich beeindruckend.

Tags darauf ging es nach Luzern, zu Paul Klee und Pablo Picasso in der Sammlung Rosengart und dann auch noch ein paar Minuten mit dem Bus raus nach Kriens, wo derzeit eine tolle Ausstellung mit alten Abzügen von Werner Bischof zu sehen ist, dem 1954 verunglückten schweizerischen Magnum-Photographen. Zum Konzert, das ich am Abend im KKL hörte, hier ein paar Zeilen:
http://forum.rollingstone.de/foren/topic/konzertimpressionen-und-rezensionen/page/11/#post-10572562

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