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Thx @vorgarten für die diplomatische Vermittlung und thx @gypsy-tail-wind für die dann-doch-noch-Antwort. Hatte schon die Befürchtung, ins Fettnäpfchen getreten zu sein und damit die Diskussion abgewürgt zu haben.
Meine Behauptung von Improvisation und Solo im Jazz als eine Frage des Kontextes und der Kommunikation ist wahrscheinlich tatsächlich trivial und ich glaube ich habe sie daher auch absichtlich hochgestochen und provozierend in Form einer wissenschaftlichen These mit Belegen (Fußnoten hatte ich vergessen ) formuliert. Hat aber nicht so richtig geklappt mir der Provokation.
Aber manchmal ist es ganz hilfreich, solche scheinbare Trivialitäten einfach mal auszusprechen, alleine um sich das selbst klar zu machen. Und erfahrungsgemäß geht ja nicht nur im Jazz, in der Musik oder auch in ganz anderen Bereichen ganz gerne mal der ursprüngliche Sinn, warum man mal etwas in einer bestimmten Art und Weise gemacht hat, verloren und es wird nur noch routiniert die Form wiederholt. Weil man es immer so gemacht hat – Thema-Saxsolo-Pianosolo-Basssolo-Drumsolo-Thema-Schluss. Das Beispiel mit dem Spätwerk von Monk hatte wir ja schon, aber man könnte noch viele andere finden.
Ich denke, es gibt auch ganz unterschiedliche Konzepte, wie Soli eingesetzt werden. Da sind wir z.B. bei Johnny Hodges, auf den vorgarten mich stieß, oder Duke Ellington, der mit seinem Orchester komplizierte Kompositionen und Arrangements spielte, in die er ganz gezielt als Ausnahmen und Höhepunkte Soli einbaute, gespielt von ganz gezielt ausgewählten Solisten, die Komposition sogar oft diesen Solisten auf den Leib geschrieben. Sicher kein Zufall, dass genau diese Solisten sehr individuelle Stimmen hatten. Johnny Hodges und Ben Webster wären nur zwei Beispiele. Und Duke oder Basie konnte es sich auch nicht leisten, langweilig zu sein. Die mussten ein Orchester ernähren und den Laden mit zahlendem Publikum füllen. Da konnte es nicht darum gehen, ein Schema abzuspulen oder dass sich auf der Bühne einer im Solo selbst verwirklicht, das aber sonst niemanden groß interessiert. Es musste spannend sein und unterhalten.
Bubber Miley, Barney Bigard und andere:
Gypsy erwähnte in Zusammenhang mit den 60er Big Band-Aufnahmen von Monk Steve Lacy als Solist. Ich erinnere mich nicht mehr gut an diese Aufnahmen, die mir durch die schematisch runtergespielten Stücke im Quartet verleidet wurden. Aber bei Lacy fälllt mir ein, wie Gil Evans ihn als Solisten einsetzte. Nämlich als mit dem Sopransax herausstechenden Glanzpunkt, der gegenüber dem Orchester einen Akzent setzte. Hier setzt Steve Lacy kurz nach 2:00 mit dem ersten Solo ein:
Und vorgartens Beispiel mit den 10-minütigen Soli im Free Jazz für jeden Musiker, egal ob Bläser oder drummer: Das ist ja eigentlich gar nicht basisdemokratisch (denn bei einer demokratischen Entscheidung setzt sich eine Mehrheit durch und die könnte sich ja durchaus auch gegen ein drumsolo entscheiden), sondern da wird ein egalitärer Proporz verwirklicht, gleiche Rechte für alle. Und das scheint auch das eigentliche Konzept dahinter zu sein. Nicht ein angestrebtes Ergebnis ist maßgebend, sondern eine Versuchsanordnung des gemeinsamens Musikmachens, ohne vorher ein Ziel zu formulieren. Ist interessant, ob es am Ende mehr ergibt als die Summe seiner Teile, ist sicher immer wieder unterschiedlich und insofern darf man dieses Konzept ggf. auch mal hinterfragen. Es einfach immer zu wiederholen, ist dann auch nicht mehr experimentell und spannend sondern erstarrt und langweilig. Aber mit Free Jazz kann man sowieso keine Hallen mit zahlendem Publikum füllen.
Oder die Zwiegespräche von Gerry Mulligan und Chet, Desmond, Hodges, Webster …
Im Hard Bop ist es sicher noch mal anderes. Im günstigen Fall ist das Schema Thema-Solo-Solo-Solo-Thema spannend. Die Solisten haben individuelle Stimmen, reagieren aufeinander und können gemeinsam ein Dramaturgie gestalten. Im ungünstigeren Fall einer spontanen jam session, bei der jeder nach Proporz seine 12-Takte kriegt, ob er was zu sagen hat oder nicht, ist das allerdings oft weit weniger spannend.
Positives Beispiel, sogar mit drum solo aber ohne bass solo:
Bei meiner Metapher mit der toten Hülle verbog sich ja fast die Tastatur beim tippen. Aber die Botschaft ist offenbar angekommen.
Sorry, wenn das hier etwas zu viel Text geworden ist. In jedem Fall vielen Dank für das anregende Gespräch!
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“There are legends of people born with the gift of making music so true it can pierce the veil between life and death. Conjuring spirits from the past and the future. This gift can bring healing—but it can also attract demons.” (From the movie Sinners by Ryan Coogler)