Antwort auf: Konzertimpressionen und -rezensionen

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gypsy-tail-wind
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Zürich, Tonhalle-Maag – 20.01.2018

Estonian Festival Orchestra
Paavo Järvi
Leitung
Viktoria Mullova violine

Arvo Pärt – Cantus in Memory of Benjamin Britten
Jean Sibelius – Violinkonzert d-Moll op. 47

Arvo Pärt – Fratres. für Streichorchester und Schlagzeug
Dmitri Schostakowitsch – Sinfonie Nr. 6 h-Moll op. 54

Einmal mehr war die Tonhalle ausverkauft gestern – und das war auch richtig, denn das Estonian Festival Orchestra mit seinem Gründer und Dirigenten Paavo Järvi lieferte richtig ab. Da war wie tags zuvor mit Gardiner die ganze Dynamik, von feinsten Pianissimo bis hin zum kreischenden Fortefortissimo … und eben wieder das, was mir beim Basler Kammerorchester ein wenig gefehlt hat: das blühende Leben, die brennende Intensität, mit der auch in den leisen Passagen musiziert wurde. Järvi ist nun wahrlich kein besonders eleganter oder beeindruckender Dirigent, eher steif steht er die meiste Zeit da, dann greifen seine Arme wieder weit aus … aber er weiss ganz genau, wie er es anstellen muss, um das Orchester zur Höchstleistung zu bringen – das klappte vor einiger Zeit ja auch mit dem Tonhalle-Orchester schon sehr gut.

Los ging es mit einer kurzen Ansprache, denn es handelt sich um die Tour zum 100. Jubiläum der Unabhängigkeit Estlands, ein Minister war dabei, der nach den einleitenden Worten von Intendantin Ilona Schmiel eine kurze Ansprache hielt – durchaus in Ordnung und sympathisch obendrein.

Los ging es dann mit Arvo Pärts Cantus für den verstorbenen Benjmain Britten – eine Glocke und Streicher, ein Klangrauschen, An- und Abschwellen, in dem mir jegliches Zeitempfinden abhanden kam. Das hätten gerade so gut drei oder zwanzig Minuten sein können (im Programm stand „ca. 7“). Dann Umbau, die Pfeiffen und Trommler mussten noch auf die Bühne und dann trat Viktoria Mullova auf, und mit ihr das seltsame Violinkonzert von Jean Sibelius … wie sie es öffnete meinte man, es handle sich um eins der grossen Konzerte der Romantik, Tschaikovsky, Bruch schienen nicht fern – und das liess mich etwas ratlos, obwohl es schon eindrücklich war, ihr zuzuschauen und zuzuhören (ich sass in der ersten Reihe, wie üblich, und wie schon bei Gardiner direkt links vom Mittelgang, sie stand also wirklich direkt vor mir). Das romantische verlor sich im Verlauf des zweiten und dritten Satzes dann ein wenig, war am Schluss des „danse macabre“ wohl ganz weggeblasen, aber trotz der beeindruckenden Performance von Mullova und vom Orchester blieb eine Prise Ratlosigkeit zurück – sollte dieses Ding nicht farbloser, karger, härter klingen? Und daraus gerade erst die Wirkung entstehen? Jedenfalls werde ich mir gelegentlich die mir vorliegende Einspielung mit Mullova (Boston/Ozawa – gibt es weitere?) anhören, ebenso wie die gerade neu eingetroffenen von von Batiashvili (Finnish Radio/Oramo) und Frang (WDR/Sondergaard) – bis dahin bleibt Hilary Hahn (die ich demnächst auch noch live hören werde, ebenfalls zum ersten Mal – bei ihr: Swedish Radio/Salonen) wohl mein Favorit aus jüngerer Zeit. Als Zugabe spielte Mullova dann einen langsamen Satz aus einer der Sonaten (oder Partiten) von Johann Sebastian Bach – man kennt es so, das passt eigentlich auch immer und war auch wirklich schön als Ausklang (Note to self: Mullovas im Hause @soulpope so geschätzte Bach-Einspielung wieder einmal antesten.)

Die Pause dauerte dann mal wieder viel zu lang (wäre der Mensch nicht ein so unvollkommenes Wesen würde ich Pausen erst bei Konzerten ab zwei Stunden gutheissen, aber dann wäre noch viel mehr Geraschel und Gehuste … und je nach Programm wäre es v.a. für die Musiker_innen kaum zumutbar), wohl weil all die wichtigen Gäste mit Puffbrause ausgestattet werden mussten – die Infrastruktur in der Übergangsspielstätte lässt leider sehr zu wünschen übrig, wobei die Bar noch okay ist, Garderobe (meine Jacke liegt jetzt immer unter dem Stuhl) und Ein/Ausgang, ebenso die Toiletten leider überhaupt nicht (letztere sind mir egal, aber für das im Schnitt schon ordentlich angejahrte Publikum ist die steile und lange Treppe – auf der dann vor der Konzert auch die Musiker_innen mit ihren Instrumenten runterkommen – schon eine Zumutung). Aber gut, irgendwann ging es zum Glück weiter …

Auch die zweite Hälfte öffnete mit Arvo Pärt, sein „Fratres“ ist für Streicher und ein Schlagzeug geschrieben, es gibt einen gehaltenen Orgelton im Bass, ein paar Schläge, die das ganze strukturieren – und auch hier wieder diese Streicherklänge, die aus dem Nichts kommen, an- und abschwellen und irgendwann wieder verschwinden – dieses mal dauerte der Zauber anscheinend „ca. 10′“, kam mir aber eher kürzer vor als im „Cantus“. Das ist faszinierender Stoff und ich sollte mich wohl mal ein wenig an Pärt heranpirschen – in Zeitlupe versteht sich, am besten im Schnee, aber der kommt ja nicht mehr, das macht einen ja ganz farruct. Die Bläser und restlichen Schlagzeuger sassen diesmal zum Glück schon mit auf der Bühne und so ging es direkt mit Schostakowitschs sechster Symphonie weiter (Jacob Knaus schrieb in der NZZ vor einigen Wochen über Schostakowitschs Vorgehensweise beim Komponieren und entschlüsselte einige der Zitate auch aus der sechsten Symphonie). Diese Symphonie, die gewissermassen keinen Anfang hat, war dann auf jeden Fall das Highlight des Konzertes, hier blühte das Orchester förmlich auf und Järvi (niemand sagte ihm, dass er den Kragen noch hätte runterfalten sollen – soviel zum Gespött über seine Eitelkeit, seine zugegen oft dämlichen Plattencover mit Selbstbildnis) gestaltet die Musik mit seinen Händen und seinen Bewegungen, kitzelte das Maximum aus dem Orchester heraus, spornte die Solisten zu Höchstleistungen an – bis mir in der ersten Reihe fast schwindlig wurde. Wie neulich, als das Tonhalle-Orchester unter Teodor Currentzis die Fünfte von Schostakowitsch spielte, hörte ich gestern auch die Sechste zum allerersten Mal. Es bleibt ein gewisser Zwiespalt – ohne diesen gibt es Schostakowitsch für mich wohl gar nicht, aber ich muss da noch viel tiefer graben. Aber dieses Werk ist faszinierend und die Aufführung war schlicht umwerfend. Es gab am Ende stehende Ovationen und sogar zwei Zugaben, zunächst wohl einen Satz aus einer der Jazz Suiten (mit einem weiteren virtuosen Klarinettensolo, der Klarinettist war davor schon im Schlussatz der Symphonie gefordert) und danach noch ein Stück, das von Grieg gewesen sein mag (so meinte zumindest jemand beim sehr trägen und entsprechend lange dauernden Vorarbeiten zum Nadelöhr vor dem Ausgang).

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