Antwort auf: Jazz-Neuerscheinungen (Neuheiten/Neue Aufnahmen)

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gypsy-tail-wind
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Clean Feed, 2017

Ich habe meine Clean Feed-CDs dieses Jahres gebündelt und will mich durch den Stapel hhören – manches zum ersten Mal, manches von früher im Jahr noch einmal. Die eine, die öfter lief, ist die Trio-CD von Angelica Sanchez, die ich schon in meinen BFT aufgenommen hatte.
 

Joe McPhee/Pascal Niggenkemper/Stale Liavik Solberg – Imaginary Numbers | Los geht es mit Joe McPhee an der Pocket Trumpet und dem Tenorsaxophon, zusammen mit dem Bassisten Pascal Niggenkemper und dem Drummer Stale Liavik Solberg. Aufgenommen wurde das Trio live im Dezember 2015 in Brooklyn, erschienen ist das Album erst gerade. Drei lange Stücke, das erste über 20, die beiden folgenden um die 10 Minuten. Da werden weite Bögen gebaut, druckvolle „Free Jazz“-Momente wechseln sich mit freien Passagen, in denen Klängen hinterhergelauscht wird, die Trommeln geschabt, die Saiten gekratzt werden, die Trompete kleinen Fragmenten hinterhersteigt, diese dreht und wendet … Niggenkemper schiebt wie üblich Dinge (diese grossen Trichter wohl?) zwischen die Saiten seines Basses, dämpft und verfremdet den Klang. Wenn McPhee zum Tenorsax greift, geht plötzlich eine Welt auf – was für ein Ton! Dass der zweite Track eine Hommage an John Coltranes „A Love Supreme“ ist, scheint mir nicht bloss aufgesetzt sondern das passt irgendwie tatsächlich, auch wenn die Musik dieses Trios auch noch ganz andere Pfade beschreitet. Vom ersten Eindruck her eine sehr schöne Aufnahme – mit Drones und freien Grooves, zupackenden Melodien, komplexen Rhythmen, gebogenen und zerdehnten Tönen … und dann muss natürlich noch McPhees Trompete erwähnt werden: verspielt, dicht, kraftvoll und doch sehr zart.
 

Tree Ear – Witches Butter | Tree Ear, die drei Spieler in Westernmontur auf dem Cover, das sind: Sebastian Strinning (Tenorsaxophon und Bassklarinette), Manuel Troller (Gitarre) und Gerry Hemingway (Drums und Stimme). Hier wird viel stärker an der klanglichen Ebene gearbeitet, Hemingway spielt of sehr zurückhaltend, Troller und Strinning wechseln zwischen melodischen Passagen – in „Third Man Walking“, das in der Tat in einen tollen „gehenden“ Groove findet wird Strinning an der Bassklarinette fast schon melodieselig, aber bei grösster Zurückhaltung – und klanglichen Experimenten. Vermutlich ist das für mich eher Konzert- denn Stubenmusik, aber die Mischung ist gut, obwohl am Ende nach diesem ersten Durchgang nicht wahnsinnig viel hängen bleibt.


 
Ada Rave Trio – „The Sea, the Storm and the Full Moon“ | Im Klappcover ein Gedicht von Rave:

I’m in the old sea
moving in the water, fluttering weightless
the air becoming obscure, wild wind, spirit changes
suddenly a house on the beach, I’m behind the glass
doors watching fascinated
rough raging sea, observing the storm unfolding unreal,
squirming almighty
unexpectedly the storm fades away and I can see a
prominent full moon
shining through in silence, rising slowly
immense in my dream
so real in me

Vielleicht ist das hier tatsächlich eine Art freie Programmusik? Denn einen Sturm entfaltet die aus Brasilien stammende Ada Rave (Tenorsaxophon, Klarinette, Flöte) gemeinsam mit zwei Musikern aus ihrer Wahlheimat, den Niederlanden – Nicola L. Hein (Gitarre) und Wilbert de Joode (Bass) – tatsächlich. Und auch die plötzliche Ruhe gibt es, auf die jedoch in der Mitte des Albums, im vierten von sieben Tracks, „The journey of the little being“, wieder ein ordentlicher Ausbruch folgt, in dem Rave an der Klarinette glänzt (es ist der einzige Track, in dem sie Klarinette und Flöte spielt). Der ganze Kram drumherum (ist das „little being“ ihr Baby, das zur Zeit der Aufnahme noch im Bauch war?) ist herzlich egal, denn die Musik ist gut! Die Kombination von Tenorsaxophon, präparierter Gitarre und Kontrabass bietet eine breite Klangpalette, Rave hat allen schon eine beeindruckende Bandbreite auf ihrem Saxophon, de Joode ist natürlich ein bestens bekannter Veteran, der einiges zu bieten hat, auch wenn er den Bass mit dem Bogen spielt, und Hein bringt immer wieder Neues in den Mix, seien es liegende, geschichtete Töne oder kurze Einsprengsel und einzelne Klänge. Gefällt mir sehr gut.
 

Jean-Brice Godet – Lignes de crêtes | Auch hier wieder Programmusik? Die Linien von Bergkämmen am Horizont, ein Text über einen, der durchs Gebirge schreitet, ohne Ziel aber mit Grund, sich die Beine zerkratzt, Geräusche hört, die er nicht zuordnen kann (Füchse, Affen, Schiffe, Wasserfälle) … das Album erschien früher in diesem Jahr und lief auch schon, zündete bisher nur so halb. Godet spielt Klarinetten sowie Radio und Diktaphon, Pascal Niggenkemper ist einmal mehr am Bass dabei, den er wie üblich mit verschiedenen Gegenständen traktiert und präpariert, Sylvain Darrifourcq spielt Schlagzeug, Percussion und an einer Stelle die Zither. Das ergibt Klanglandschaften, zu denen Bilder von zerklüfteten Felsen (und da und dort mal ein steil über viele Dutzend Meter herabfallender Wasserfall) durchaus passen. Da und dort tauchen – meist vom Bass getrieben – Reminiszenzen an Free Jazz auf, an die gute alte europäische freie Improvisation (der ich später heute Nachmittag mit dem Schlippenbach Trio frönen werde, es ist schliesslich Winterreisezeit), aber der Klangstrom, den wir hier hören, ist selten eindeutig, nicht alles lässt sich konkret rückführen auf die drei Musiker bzw. man muss sie – in meinem Fall ist das mit Niggenkemper und Darrifourcq der Fall – gesehen haben, um genauer zu verstehen, was hier alles abläuft. Allerdings muss man das wiederum überhaupt nicht verstehen, um die Musik zu verstehen, die sich ihre Bahn bricht und den Raum füllt … heute scheint sie mich mitzunehmen, das gefällt mir gerade deutlich besser als bei den vormaligen Hörgängen. Aufgenommen wurde der Trip live im „Atelier du Plateau“ in Paris im Mai 2016.
 

Aalberg/Kullhammar/Zetterberg/Santos Silva – The Basement Sessions Vol. 4 (The Bali Tapes) | Wenn ich den Namen von Jonas Kullhammar lese, des Saxophonisten, dessen Trio mit Espen Alberg (Drums) und Torbjörn Zetterberg (Bass) hinter den „Basement Sessions“ steckt, denke ich stets an druckvollen, energiegeladenen Free Jazz voller Grooves und mit viel Drive. Doch weit gefehlt, hier herrscht eine entspannte Stimmung vor, mit der lyrischen Trompete von Susana Santos Silva (eine meiner schöneren Entdeckungen der letzten Monate – dank Clean Feed) und den Gamelans, die alle vier neben ihren Hauptinstrumenten spielen, werden lockere und oft sehr verführerische Grooves aufgebaut. Das ist kein präzises, durchgeformtes Album, aber es macht grossen Spass – repeat!

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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #151: Neuheiten aus dem Archiv – 09.04., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba