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Ginger Baker Trio – Going Back Home (1994)
Man stelle sich einen späten Oktobernachmittag in hügeliger Graslandschaft vor, mit bewölktem Himmel, aus dem gelegentliche Regenschauer niedergehen, auf die hin einzelne Sonnenstrahlen den Betrachter wärmen, bevor die Sonne untergeht: ein solches Stimmungsbild evoziert das hier zu besprechende Album, das aus der Zusammenarbeit dreier berühmter Großmeister ihres Fachs entstanden ist. Ginger Bakers polterndes Schlagzeugspiel steht hier auf dem Höhepunkt seiner Ausdruckskraft, Charlie Haden zupft ebenso sacht wie präzis den Kontrabass, und Bill Frisell wirft mit seinem splitternden Gitarrenspiel, das in seiner einerseits schüchternen, andererseits sehr emotionalen Art immer etwas unfertig wirkt, blutrote, ockerne und gewitterschwarzblaue Farbe auf das eingangs skizzierte Landschaftsbild.
Es ist eine seltsame Art von Traurigkeit, die ich beim Hören dieser Platte empfinde, nämlich eine Trauer ohne Grund und Objekt, eine Wehmut ohne Weltschmerz, ein Blues ohne Jammer. Sie ist außerordentlich schön, ohne zu strahlen, matt und doch kraftvoll – gewissermaßen der Soundtrack zum Limbus, wie ihn Dante Alighieri beschrieb, ein ebenso trister wie erhabener Ort zwischen Hölle und Erde, ohne Schmerz und Freude, aber voll bewegter Gedanken der dort residierenden antiken Philosophen. Und doch kommt zum Ende hin Zorn zum Vorschein; in „East Timor“ beklagt Ginger Baker in knurrendem Sprechgesang Tod und Leid auf der bürgerkriegsgeplagten Südseeinsel, deren Osthälfte 2002 die Unabhängigkeit erlangte.
Stilistisch stellt das Album ein sehr gelungenes Crossover zwischen Jazz, Pop und Rock dar, sehr reif und doch, aufgrund der erwähnten Emotionalität von Frisells außergewöhnlichem Gitarrenspiel, aufwühlend und hochgradig präsent. Durch Going Back Home hat Bill Frisell sich als eine der für mich wichtigsten Entdeckungen im Jazzbereich herausgestellt, und als ich kürzlich in der F.A.Z. eine hymnische Besprechung seines neuen Albums Big Sur las, zog ich augenblicklich los und kaufte es; ich sollte es nicht bereuen.
Tracklist:
1 Rambler 5:26
2 I Lu Kron 2:38
3 Straight, No Chaser 5:33
4 Ramblin‘ 4:22
5 Ginger Blues 5:08
6 Ain Temouchant 5:00
7 When We Go 3:50
8 In the Moment 4:29
9 Spiritual 3:45
10 East Timor 4:40
****1/2
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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=