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The Who – Endless Wire (2006)
Das Schöne an diesem Thread ist ja, dass er einen dazu zu motivieren imstande ist, Alben wieder anzuhören, die man bereits resignierend in die hinterste Ecke des Vergessens abgeschoben hatte. Es ist nicht seine Schuld, wenn sie diese Mühe nicht lohnen.
„Endless Wire“ von The Who ist nicht so sehr eine Enttäuschung für mich; es ist vielmehr ein Ärgernis. Einer Band, die mir so viel bedeutet, kann ich es nicht so leicht nachsehen, wenn sie nach fast einem Vierteljahrhundert Studioabstinenz eine Platte vorlegt, die in nahezu jeglicher Hinsicht ein Sammelsurium schlecht abgekupferter Ideen darstellt, die teils sie selbst, teils andere bereits vor Generationen verwirklicht hatten. Das beginnt schon beim Cover, das leicht erkennbar das Vögel-Motiv von „Tommy“ zitiert, setzt sich unmittelbar nach Betätigen der Play-Taste mit den ersten Klängen des ersten Tracks „Fragments“ fort, die ganz offenkundig an die Synthesizer-Eröffnung von „Baba O’Riley“ angelehnt sind, und geht gleich mit dem nachfolgenden „A Man in a Purple Dress“ weiter, das nach dem vollkommen misslungenen Opener zunächst Erleichterung für die schon leicht geschundenen Ohren verspricht, dann aber die anfängliche Sympathie sofort wieder dadurch verspielt, dass es in geradezu unverschämter Weise ein Soundalike zum frühen Bob Dylan darstellt.
Überhaupt muss ich zur Beschämung für „Endless Wire“ sagen, dass die Songs und Passagen, die die Gehörgänge nicht geradezu quälen und martern, lediglich dadurch positiv auffallen, dass sie, um ein böses Wort von Dieter Bohlen zu zitieren, die sprichwörtliche Hausfrau nicht beim Bügeln stören würden. Ansonsten – z.B. in „Fragments“ und „It’s Not Enough“ – weckt dieses Album bei mir die Assoziation zu einem blind und tumb herumtaumelnden, alten und zahnlosen Riesen, der nach ruhmreichen Jahrzehnten als großer Kriegsheld nicht einmal mehr einen lahmen Hofhund erschrecken kann. Ohne sein Oeuvre genauer zu kennen fürchte ich, dass nicht einmal Meat Loaf jemals musikalisch so tief gesunken ist. Zur Mitte des Ganzen verstärkt sich mit „Sound Round“, einem sinnlos hibbeligen Pseudo-Rocker, und „Pick Up the Peace“, einer fürchterlich verquasten Mixtur aus Quadrophenia- und Woodstock-Elementen, der fatale Eindruck, dass jegliche Hoffnung auf Besserung vergeblich sein würde. „Unholy Trinity“ lässt diesen Eindruck zur Gewissheit gerinnen.
Aus Gründen der Pietät und des Respekts erspare ich es mir und dem geschätzten Publikum, die zweite Hälfte des Albums eingehend zu bewerten; es entspricht qualitativ der ersten. Es macht mir auch durchaus keine Freude, hier vom Leder zu ziehen, aber ich will auch nicht darüber schweigen, dass die großartigste Band des Universums mit ihrem ersten Studioalbum nach 24 Jahren einen derartigen Griff ins Klo getan hat. Wie aber konnte es dazu kommen? Übt eine solche Zusammenballung von lebenden Legenden auf ihre Umgebung eine so einschüchternde Wirkung aus, dass niemand sich in der Lage sieht, die Nacktheit des Kaisers zu benennen? Kurz gefasst: waren The Who damals von lauter Jasagern umgeben? Jedenfalls schreibt „Endless Wire“ ein dräuendes Menetekel an die Wand: Wehe dem Künstler, der sich kritischer Selbstreflexion entzieht!
Ach ja: „Tea & Theatre“ ist ganz nett.
Tracklist
1. „Fragments“ 3:58
2. „A Man in a Purple Dress“ 4:14
3. „Mike Post Theme“ 4:28
4. „In the Ether“ 3:35
5. „Black Widow’s Eyes“ 3:07
6. „Two Thousand Years“ 2:50
7. „God Speaks of Marty Robbins“ 3:26
8. „It’s Not Enough“ 4:02
9. „You Stand by Me“ 1:36
Wire & Glass: A Mini-Opera
10. „Sound Round“ 1:21
11. „Pick Up the Peace“ 1:28
12. „Unholy Trinity“ 2:07
13. „Trilby’s Piano“ 2:04
14. „Endless Wire“ 1:51
15. „Fragments of Fragments“ 2:23
16. „We Got a Hit“ 1:18
17. „They Made My Dream Come True“ 1:13
18. „Mirror Door“ 4:14
19. „Tea & Theatre“ 3:24
Bonus tracks on some editions
20. „We Got a Hit (Extended)“ 3:03
21. „Endless Wire (Extended)“ 3:03
*1/2
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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=