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Colosseum – Daughter of Time (1970)
Neulich verlangte ein guter Freund, der mich besuchte, etwas „Großes“ zu hören. Ich staunte selbst darüber, wie unmittelbar und augenblicklich mir nur ein Album zu diesem Attribut einfiel, obwohl einige andere seinem Wunsch ebenfalls entsprochen hätten. Doch keines in meiner Sammlung ist so übervoll von großen musikalischen Gesten wie „Daughter of Time“ von Colosseum. Alles an ihm ist überdimensional: die weit ausholenden Vocals von Chris Farlowe, das orchestrale Schlagzeugspiel von Jon Hiseman, vor allem aber die Kompositionen selbst, deren Monumentalität durch die Covergestaltung bereits recht gut angedeutet wird. Überaus erstaunlich erscheint mir da, dass die Musik dennoch nicht ins Wagnerianische ausufert; vielleicht schützt die englische Nationalität der Musiker vor dieser letzten Übertreibung, nachdem ansonsten fast alle Merkmale dieser Platte eine Assoziation mit dem berühmten Monty-Python-Sketch „Royal Hospital for Over-acting“ erlauben. Merke: Engländer dürfen das!
Darüber hinaus ist das Album ja auch wirklich schön. „Theme for an Imaginary Western“ rührt schon sehr stark an Herz und Tränendrüsen, „Bring Out Your Dead“ ist ein musikalischer Parforceritt Dave Greenslades und Jon Hisemans, der ihre individuelle Klasse sehr gut zur Geltung bringt (wobei letztgenannter diesem Album ohnehin in einer Weise seinen Stempel aufdrückt, wie das wohl von keinem anderen Schlagzeuger außerhalb der reinen Jazz-Sphäre gesagt werden kann, was er in „The Time Machine“ letztgültig verdeutlicht), und „The Daughter of Time“ lässt einen unwillkürlich an die Brust greifen, so erhebend und überpathetisch ist es, wobei dennoch ein Abgleiten ins Kitschige mit vollendeter Klasse vermieden wird. Gegniedel? Ist höchstens in homöopathischen Dosen vorhanden (Clem Clempson erlaubt sich eine Winzigkeit Gitarrengewichse in „Downhill And Shadows“).
Zur Begleitung wird vollmundig-trockener Rotwein empfohlen, gegenwärtig angesichts der endlich angebrochenen Wärme vielleicht ein hochwertiger Brandy oder Cognac oder ein Whisky aus den Highlands. Man genieße dieses Werk in vollen Zügen; es gibt kaum Ebenbürtiges.
Tracklist
1. „Three Score and Ten, Amen“ 5:38
2. „Time Lament“ 6:13
3. „Take Me Back to Doomsday“ 4:25
4. „The Daughter of Time“ 3:33
5. „Theme for an Imaginary Western“ 4:07
6. „Bring Out Your Dead“ 4:20
7. „Downhill and Shadows“ 6:13
8. „The Time Machine (live)“ 8:11
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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=