Antwort auf: Umfrage nach den besten zweiten Alben

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#10127191  | PERMALINK

wahr

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Habe jetzt meine Top 20 mal vollständig durchkommentiert und stelle alles zusammen hier rein, also auch die bereits gestern geposteten Kommentare.

1. Eno – Taking Tiger Mountain (By Strategy) 1974
Letztens wieder gehört und vollkommen begeistert gewesen von dieser eigenartigen, majestätischen Atmosphäre. Als wäre Eno der Regent eines untertanenfreundlichen Zwergstaats, der seine Audienzen in Songform abhält. Umringt von einem Hofstaat sehr talentierter Musiker.

2. Isis – Oceanic 2002
Unterseeisches Postrock-Monster, bei dem ich mich immer durch die ruhigen Parts hindurchsehne, bis dann endlich das Seebeben …

3. PiL – Metal Box 1979
Eine der Platten, die damals soviel Vorfreude machten auf das kommende 1980er Jahrzehnt. Eine Dreierbeziehung aus Dub, insektigen (im Gegensatz zu insektiziden) E-Gitarren und hässlichen Wirklichkeiten (Lydon). Es blieb dann bei der Vorfreude.

4. The Velvet Underground – White Light/White Heat 1968
Was soll ich sagen? Bestes, schärfstes, bohrendstes, atonales Gitarrensolo auf einer Rockplatte ever (I Heard Her Call My Name). Bestes Stück, wo dem einen Kanal vollkommen wurscht ist, was auf dem anderen Kanal passiert (The Gift). Bestes Rock-Tour-de-Force-Langstück (Sister Ray). Beste Soundstrategie (Regler auf Rot). Und der Rest ist auch nicht schlechter.

5. Chrome – Alien Soundtracks 1977
Hier könnte auch „Funhouse“ stehen. Aber ich verehre nunmal die zweite (Alien Soundtracks) und die dritte (Half Machine Lip Moves) von Chrome aus SF. Beide Platten haben den Stooges viel zu verdanken, aber auch den deutschen Motorikern. Auf Alien Soundtracks gehen die Tracks oft so: Aus einer undefinierbaren Schliere aus Lärm, Hendrix, Billigelektronik und Effekten schält sich ein Dinger-Groove und ein Stoogesgedächtnismotiv heraus, über das vielleicht Chromes Iggy namens Damon Edge irgendwas drüber singt, das mit Mutationen, Monstren oder anderem Außenseiterzeugs zu tun hat. Dann kann plötzlich alles recht schnell und plötzlich wieder zusammenbrechen, ein neuer Part übernimmt, der manchmal sogar ausgefadet wird, dann Stille, dann geht’s anders weiter, aber der Track ist immer noch derselbe. Ein neuer Track beginnt dann irgendwie nach dem Zufallsprinzip. Ganz wunderbar. Eben ein assoziativer Kulturstrom aus Trash und den aktuellen Möglichkeiten biologischer Reproduktionsmedizin.

6. Dälek – Absence 2004
Ist doch recht lärmlastig, meine aktuelle Top 20 der besten zweiten Alben. Absence ist ein vollkommen umblasendes Noise-HipHop-Kunstwerk, das im Prinzip aus einem einzigen Noise-Schrei besteht, mit dunkel klopfenden Beats, und entsprechenden apokalyptischen Rhymes.

7. Rufus Wainwright – Poses 2001
Etwas heruntergefahren im Vergleich zum Debut. Nicht mehr so Van-Dyke-Parks-mäßig barockisiert. Dafür ein kleinerer Bandsound, der aber dann doch zu den genau richtigen Zeiten aufgebretzelt wird, als würde ein Regisseur von Sundance-Independentfilmen plötzlich einen Film wie David Lean drehen. Der Titelsong ist vielleicht Wainwrights schönster überhaupt.

8. Alan Vega – Collision Drive 1981
Gefällt mir genauso gut wie Suicides Debut, ist auch eigentlich das gleiche Prinzip, nur eben nicht mit Elektronik, sondern mit einer NoNewYork-Rockabilly-Band umgesetzt. Auch wieder mit Distanztechnik, die sich aus einer gewissen Abgezocktheit speist, also Rockabilly stumpf runterzurocken und sich gar nicht erst die Mühe zu machen, irgendwelche tollen, schweißtreibenden Schnörkel einzubinden. Eine Emotionskälte wird abgestrahlt, die nicht ganz untypisch ist für eine bestimmte Art von Drogen und für eine bestimmte New Yorker Szene zu der Zeit sowieso. Und vorne dann Vega, der stellvertretend für alle die Gefühle aufbringen muss. Und sie dann schon aus Selbstschutz inszeniert, weil sonst würde das ja kein Mensch auf Dauer aushalten. Eine coole und bedrohliche Platte, die nichts von ihrer Faszination verloren hat.

9. Broken Social Scene – You Forgot It In People 2002
Für mich sowas wie das „Daydream Nation“ des angehenden Jahrtausends. Unter dem mach ich es nicht. Ein kanadisches Kollektiv aus einem kleinen Kern von 3-4 Leuten und ungefähr nochmal 10 asoziierten Leuten. Etwas, was Anfang der 2000er nicht unüblich war. Die klassische Band verlor an Bedeutung und an Reiz, viele Szenen im Folk- und Indiebereich waren eher lockere Verbünde, die sich immer wieder anders zusammensetzten. Eine gebrochene, oder besser schillernde sozial Szene halt. Vielleicht daher der Name. Ich trug ziemlich lange daran, mir klar zu werden, was dieses Album charakterisiert. Ich glaube, es ist ein Gefühl, als würde sie ständig Veränderungsmomente orchestrieren, als wäre sie der Soundtrack zu epiphanischen Situationen, zu Bewusstwerdungsprozessen, die kurz bevor stehen, und die sich dann im Laufe der Tracks ganz auftun. Die Musik und der Gesang sind an Sonic Youth und an Postrock geschult. Das Album scheut weder Lärm noch Elektronik, aber auch keine Trompeten- oder Violinenmelodie, hat offene Ohren für eine gewisse Melancholie, die entsteht, wenn Musik die Möglichkeit gegeben wird, soviel Bedeutung tragen zu dürfen. Das Tolle: Sie scheitert dabei nicht, weil hier wirklich jede Sekunde klar ist, wie groß und stark die Musik ist. Statt einem herkömmlichen Kompositionsschema Strophe-Refrain-etc. zu folgen, bilden sie selbst ihre eigene Klassik, lassen vielleicht jeden der vielen Mitwirkenden gütig etwas einbringen, oder erlauben längere Strecken, die sich langsam, traumartig steigern. Dabei werden keine Ideen nur aneinandergereit, sondern eingebunden in eine nicht zu trennenden Gesamtheit. Definitiv ein Sound-Album und kein instrumentenfixiertes. Ich habe selten eine so gute, letztlich sehr songorientierte Platte gehört wie „You Forgot It In People“. Man müsste sich eigentlich mit jedem Song (und mit den Texten) auch nochmal einzeln beschäftigen, um zu erfassen, was hier alles an Wundern passiert.

10. Dinosaur Jr. – You’re Living All Over Me 1987
Ich denke, You’re Living All Over Me ist so weit bekannt, dass man hier nicht noch besonders auf dessen Qualität eingehen muss. Vielleicht nur eines, was man jungen Musikern auf den Weg geben sollte: Spielst du schnelle Musik, dann ist es oft eine gute Idee, langsam und gelangweilt dazu zu singen.

11. Pyrolator – Ausland 1982
Ein Ausflug auf die Tanzflure New Yorks und ein sehr heißer Sommer waren Schlüsselreize, die den Spieltrieb Kurt Dahlkes Anfang der 80er Jahre aufs Unterhaltsamste befeuert haben. War „Inland“ noch eine eher klaustrophobische Synthie-Platte, schöpft „Ausland“ aus allen möglichen Quellen: Disco, Latin, Geri Reig, Kraftwerk und die Residents. Immer noch eine wunderbare Platte, auch wenn sie mir manchmal etwas langsamer und steifer vorkommt, als ich sie in Erinnerung hatte. Hat mich sehr gefreut, dass @friedrich sie auch in der Liste hat.

12. Pere Ubu – Dub Housing 1978
Der ebenbürtige Nachfolger von „The Modern Dance“, aber vom gefühlten Setting her mehr am Surrealismus orientiert, weniger an den magischen Industriebauten Clevelands. Ich sehe Stummfilmkomparsen grotesk überschminkt Shanties schmettern. Ich sehe durchaus auch Cleveland, vielleicht eine Zubringerbrücke im Dunkeln, nachgestellt in einem deutschen Filmstudio der 1920er Jahre. Mit schiefen Stützpfeilern und einem labilen, asymmetrischen Stahlseilkonstrukt das Innere nach außen kehrend.

13. Annette Peacock – I’m The One 1972
Prototyp-Moog meets Peacock-Voice, Funk, Jazz, Elvis und explizite Innenansichten. Ein unruhiges, faszinierendes Sammelsurium von Versatzstücken damaliger Musiken der Gegenkultur. Während Maschinen in der Musik die Tendenz haben, alles perfekter zu machen, geht Annette Peacock den entgegengesetzten Weg und zerschießt ihre Stimme bisweilen so stark, dass man den Fehler schon fast in der eigenen Anlage sucht. Ein weiteres Kapitel großartiger Frauen, die sich um elektronisch erweiterte Musik verdient gemacht haben.

14. Wire – Chairs Missing 1978
Höre ich eigentlich kaum noch, weiß aber die Strenge und gleichzeitige Offenheit zu Punk-unähnlichen Sounds zu schätzen, wenn ich sie in den Zeitkontext stelle, in der die Band die Erwartungen an weitere knappe Punk-Ditties á la „Pink Flag“ unterlief. Sowieso scheinen mir Wire missverständlich wahrgenommen worden zu sein. Eigentlich schon zu alt für glühende Punks, haben sie auf „Chairs Missing“ mehr Nähe zu „Piper At The Gates Of Dawn“ gezeigt, als zu den Clash (Keyboards!). Sie konnten eben auch mal zart, seltsam und verschroben sein und einen einsamen Schiffbrüchigen beschreiben, der mit seiner Eisscholle der wärmenden Sonne entgegentaut. In der Haltung waren sie aber voll in ihrer Zeit: Knapp, ökonomisch, auch mal sekundenlange Schreie, die abrupt endeten. Oder waren sie vielleicht sogar die ersten, bei denen kurze Schreie abrupt endeten? Egal, es ging jedenfalls auch um Distanz. Und um Kontrolle – der eigenen gewollten und der fremden ungewollten. Und wo Distanz eingebaut ist, da ist Kunst im Spiel. Das durfte damals nicht sein in bestimmten Kreisen. Nachzuhören auf „Document And Eyewitness“, das unter anderem den letzten Auftritt der frühen Wire dokumentiert, wo die Band ob ihrer dadaistischen Performance-Ideen von der Bühne gebrüllt wurde.

15. New Age Steppers – Action Battlefield 1982
Reggae und Dub aus der Sherwoodküche. Da meistens Ari Up singt, geht das gefühlt auch als Slits-Album durch. Für mich eine der schönsten Sherwood-Produktionen. Neneh Cherry ist auch bei einem Stück dabei.

16. Fushitsusha – PSF 15/16 (Live II) 1991
(Die Doppel-CD ist nach der Katalognummer des Labels P.S.F. benannt)
Den japanischen Multiinstrumentalisten, Performer und Improvisator Keiji Haino habe ich erst vor ca. vier Jahren entdeckt, im Zuge seiner turnusmäßigen Zusammenarbeiten mit Jim O’Rourke und Oren Ambarchi. Haino ist seit den 1970er Jahren unterwegs und zieht seine Inspiration aus so unterschiedlichen Feldern wie Blues, schwerem Rock aller Schattierungen, japanischen Musiktraditionen, Noise, Free Jazz und anderen Improvisationszusammenhängen. Er hat mit unzähligen Musikern in unterschiedlichen Kontexten zusammengearbeitet, dreistellig ist der Output an Platten, an denen er beteiligt ist. Eine der Kerngruppen, mit denen er immer wieder in unregelmäßigen gespielt hat (noch spielt?) bildet Fushitsusha, ein Trio, das 1991, zum Zeitpunkt von PSF 15/16 (Live II), aus Keiji Haino (Gitarre, Stimme), Yasushi Ozawa (Bass) und Jun Kosugi (Drums) bestand. Es ist eine besondere Erfahrung, sich durch diese Live-Doppel-CD zu hören, die hauptsächlich aus langen, lang- und achtsamen Rock- und Noise-Improvisationen besteht. Eine dunkelanthrazitfarbene Musik, trotz aller freien Areale sehr diszipliniert und konzentriert dargeboten. Falls es je ein Album verdienen sollte, von mir mit dem Allgemeinplatz bedacht zu werden, es handele sich um einen „Monolithen“, dann sollte es „PSF 15/16 (Live II)“ sein. Dazu passt auch das Design: Eine schwarze Fläche, in die in nicht ganz so dunklem Schwarz der Name der Band mit japanischen Schriftzeichen aufgedruckt ist. Die 13 Tracks sind zwischen 6 und 17 Minuten lang und haben keine Titel. Das Booklet soll von „150 minutes of soul transmigration“ schreiben. Kann man machen. Fushitsusha ist übrigens das einzige Album meiner Top 20, das ich nur als Download besitze. Ich bin noch nicht bereit, für ein gut erhaltenes CD-Exemplar 40 Pfund + Porto zu bezahlen. Als Vinyl ist das Album nie erschienen. Ich lese jedoch grad, dass das US-Label Black Editions angekündigt hat, noch in diesem Jahr das Album als Vinyl veröffentlichen zu wollen. Also schon mal sparen auf eine wahrscheinliche Vierer-Vinyl-Box mit schwarzer Schrift auf schwarzem Grund. Die Platte macht übrigens durchaus Spaß und hat auch sensible Seiten. Zum Beispiel Track 4 auf CD1 ist ein solch stilles Ereignis, wo sich ein langsames, rudimentäres Bassmotiv über Minuten mit dem leisen Grundsummen der Lautsprecher verbindet, und Haino mit seiner unnachahmlichen Stimme – hoch, androgyn, hier sehr zart und berührend, auf anderen Tracks auch schreiend und berstend – eine Unwirklichkeit darüberlegt. Es geht hier eben nicht um Krach an sich, es sind auch Meister der Stille am Werk.

17. Giant Sand – Ballad Of A Thin Line Man 1986
Wer hätte 1986 gedacht, dass noch aberdutzende Giant Sand-Alben folgen würden? Mir schien die Band damals als Neuerer dessen, was NY & Crazy Horse mit ihren langen Stücken entwickelt hatten: Eine staubige Ebene zu bereiten, auf dem große und kleine Epen Gelegenheit fanden, sich auszubreiten und aufzuladen. Mir gefällt an Ballad Of A Thin Line Man, wie diese staubigen Ebenen mit kleinen Felsbrocken beschickt werden, die Wege also nicht so eindeutig sind wie bei Crazy Horse, die ihren Groove meist einfach durchziehen. Später konzentrierte sich Giant Sand ein ums andere Mal dann für mein Gefühl zu sehr auf die Felsbrocken und verlor die Ebene und die Epen bisweilen aus dem Blick. Aber wahrscheinlich ist es mit dieser Band so wie mit The Fall: Magst du ein Album von ihnen nicht, musst du dich fragen, ob es nicht eher an dir liegt und nicht so sehr am Album.

18. The Go-Betweens – Before Hollywood 1982
Die passen gut zwischen Giant Sand, siehe Nr. 17, und NY & Crazy Horse, siehe Nr. 19. Ich mag die Go-Betweens am liebsten in dieser frühen Phase, als sie noch relativ spartanisch waren und nicht die Indie-Superdarlings, die sie dann so um die Mitte der 1980er wurden. Kleine Steine glänzen mehr, wenn man ihnen keine großen an die Seite legt.

19. Neil Young & Crazy Horse – Everybody Knows This Is Nowhere 1969
Muss jetzt auch nicht viel dazu gesagt werden. Die staubige Ebene, Geschehnisse unten am Fluss, etc.

20. It’s Immaterial – Song 1990
Einzige Band, die ich sowohl in den Debut Top 20 als auch in den Zweite Alben Top 20 habe. Das Debut zeigte noch ein sehr cleveres, humorvolles Synths/Akustik-Duo, mit pophistorischen Querverweisen, flankierenden Dancefloor-Remixen und einem schönen Hit (Driving Away From Home). „Song“, der Zweitling, ist eine Vollbremsung in die Nachdenklichkeit: Fast eine reine, ruhige Synthie-Platte, sparsame Percussion, teils Geschichten von Arbeitslosigkeit, deprimierenden Alltagsbildern und vagen Hoffnungen. Kein Hit weit und breit, es wird kein Wert darauf gelegt. Dafür werden die traurigen Geschichten sorgfältig eingebettet in den Fluss der Musik, teilweise klingt es wie eine Lesung mit Musikbegleitung. Ich schrieb mal, It’s Immaterial wären für mich das, was Mark Hollis und spätere Talk Talk für andere wären. Besser kann ich meine emotionale Bindung an „Song“ nicht beschreiben. Nach „Song“ war Schluss. Zumindest offiziell. Ein paar Jahre später wurde ein weiteres Album produziert. Das Label lehnte ab. „Zu negativ“.

zuletzt geändert von wahr