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Anfang und Abschluss des Urlaubs, der leider schon vor einer Woche wieder zu Ende ging, gibt es drüben im entsprechenden Jazz-Thread. Die Klassik sollte jedoch für einmal einen wichtigeren Rang einnehmen (was sie derzeit ja auch bei den Konzerten im heimischen Zürich tut). Neben einem Besuch in der Scala gab es drei Konzerte und ein – ungeplantes – kleines viertes, in das ich zufällig geriet. Doch von vorne.
Am Montag 30.1. ging es zunächst in den beeindruckenden Dom inklusive Herumturnen auf dem Dach (natürlich auch wegen Viscontis „Rocco e i suoi fratelli“, in meiner Biographie ein Kino-Schlüsselerlebnis), danach ging es ins Museo Poldi Pezzoli, das in der Nähe des Teatro Manzoni liegt und Zutritt in einen einst privaten Palazzo gewährt, der vollgestopft ist mit den Objekten, die der Sammlung der Familie entstammen, die schon seit dem späten 19. Jahrhundert als Museum zugänglich ist. Das grosse Highlight für mich war Piero del Pollaiolos Portrait einer jungen Frau:
Nach einem guten schnellen Mittagessen in einer brummenden Trattoria ging es weiter in den Palazzo Reale, in dem es gerade eine Rubens-Ausstellung gab, mit dabei ein paar Gemälde, die wir im Sommer schon in Wien wiedergesehen hatten, darunter eines meiner liebsten von Rubens, das Portrait von Clara Serena (1615/16) aus der Liechtenstein-Sammlung. Die Ausstellung präsentierte aber vor allem grossformatige Bilder mit den üblichen Rubens-Motiven, die ich an sich gar nicht mag, doch war die Präsentation sehr erhellend und gut kommentiert, sodass ich den Besuch überaus lohnenswert fand (trotz des Preises von 14€ durfte ich allerdings sonst im Palazzo Reale nichts weiter anschauen … Mailand ist halt wie Zureich, ich hätte beim Ticketkauf besser aufpassen sollen).
Dann ging es in die Bottega Discantica, von meinem Hotel aus auch gleich um die Ecke – der Laden bietet ein wahrlich beeindruckendes Klassik-Sortiment, es fiel mir richtiggehend schwer, nicht ob der schieren Überforderung mit leeren Händen herauszuspazieren, so kaufte ich eine Eigenproduktion mit Klaviermusik (solo, zwei Klaviere, zwei Klaviere mit Percussion) von Giorgio Gaslini sowie eine APR-CD von Maria Yudina mit drei Beethoven-Sonaten). Ich kehrte zwei Tage später noch einmal rasch zurück, um zwei weitere Yudina-CDs zu holen (beide aus der Vista Vera-Serie, Schubert D 960/Schumann und Bach WTC II Auszüge). Die Preise sind natürlich sehr ordentlich, aber einen solchen Laden vor der Haustür zu haben gefiele mir natürlich trotzdem sehr gut! Am Abend gab es dann nach einem schnellen Abendessen (eine Pizza hinter der Galleria – montags ist Italien inzwischen wohl deutlich ausgestorbener als früher sonntags) dann das erste klassische Konzert:
Sala Verdi, Conservatorio di Milano – 30.1.
D. SCARLATTI: Sonaten K 208, K 24, K 132 und K 141
RAVEL: Gaspard de la nuit
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LISZT: Sonate h-Moll S 178
Lucas Debargue, piano
Der Konzertsaal ist schon mal klasse, der Mailänder Bekannte, mit dem ich schon Samstagabend Essen und dann Montag und Dienstag im Konzert und beide Male beim Abendessen war, meinte, es sei von der Akustik her der beste Saal Mailands. Los ging es mit romantisiertem Scarlatti, viel Pedal, Rubato … nicht mein Fall, skip. Ravels Gaspard hörte ich im Vorfeld zwar einige Male, aber so ganz komme ich damit noch nicht klar. Debargue kann das, keine Frage. Seine Technik scheint insgesamt exzellent zu sein, aber in Sachen Gestaltung kann er wohl noch etwas dazulernen, wie so viele junge Musiker dieser Tage. Nach der Pause dann der main event, die grosse Sonate von Franz Liszt. Debargue packte den Stier bei den Hörnern, ging Risiken ein, wählte manchmal so horrende Tempi, dass die Finger nicht mehr ganz mithalten konnte, falsche Töne sich zu den richtigen gesellten – das ist jedenfalls schon einmal die richtige Einstellung. In den ruhigen, leisen Momenten war er sehr stark, aber auch in der wuchtigen Intensität heimisch. Die Verbindung zwischen diesen beiden Polen schien mir jedoch manchmal etwas schwierig, etwas unorganisch, ein rasches Crescendo gepaart mit einem kurzen Accelerando und so war Debargue wenig mehr als einen Wimpernschlag später im anderen Extrem; ein Dazwischen, das die Extreme wirksamer würde werden lassen, gab es nur selten. Doch der Mann ist jung und ich werde wohl aus der Distanz aber mit einiger Sympathie verfolgen, was von ihm kommen wird. Die erste Zugabe war vermutlich ein Stück von Chopin oder Liszt oder auch Schumann … ich erkannte das Stück zwar, aber kam nicht drauf (der Bekannte schloss Chopin aus, aber ich bin immer noch der Meinung, dass es am ehesten Chopin gewesen ist). Die zweite Zugabe war dann leider eine der Kapitalsünden der Klassik-Welt – auch wenn das Publikum das nicht merkte und ziemlich abging: Debargue vergriff sich an Thelonious Monks „Round Midnight“ und ratterte durch, wie es nicht einmal Oscar Peterson getan hätte (ja, double time, auch meist eine Sünde, wenn es um Balladen geht, selbst von den grossen Jazzern konnten das nur wenige). Dabei kam Monk natürlich abhanden, sein Stück wurde ein pures Mittel zum Zweck. Schade, dass das Konzert so enden sollte.
Am nächsten Morgen stand als erstes der Besuch des Abendmahls von da Vinci auf dem Programm, die Cenacolo Vinciano (geht nur, indem man sich im Voraus ein Ticket für einen Slot kauft … beim nächsten Mal würde ich wohl zwei kaufen, falls das geht, wobei man aus praktischen Gründen ein Zeitfenster – sie dauern jeweils 15 Minuten – überspringen muss), danach eher zufällig zum Einkauf zu Buscemi Dischi (es gab ein paar Jazz-CDs aus den Spezialangeboten, kleiner Laden im Keller, früher anscheinend viel grösser) und weiter zum Castello Sforzesco – neben dem Dom das andere Wahrzeichen Mailands.
Die von da Vinci mit Fresken ausgestaltete Sala delle Asse ist derzeit leider wegen Restaurierung geschlossen, doch Michelangelos Pietà Rondanini, eine sehenswerte Gemäldesammlung – in der auch das obige Vanitas-Bild (Sängerin am Spinett, Lombardischer Maler, ca. 1650) hängt – und weitere Sehenswürdigkeiten (eine grosse Sammlung alter Musikinstrumente, ein seltsames Gemälde von Mantegna, eine Wechselausstellung mit schönen Photographien von Paolo Monti) machten den Besuch überaus lohnenswert. Im Säulengang eines der kleineren Höfe findet man auch das Fresko – es handelt sich wohl um Soliman (Indien, ca. 1540 – Wien, 1553), ein Geschenk Johannas, der Tochter Kaiser Karls V. und Isabellas von Portugal, an den späteren Kaiser Maximilian II. Die Reise des Elefanten nach Wien ist gut dokumentiert.
Später ging es noch in ein paar Kirchen, vor allem endlich zu San Satiro, der Kirche mit dem Trompe-l’oeil-Chor von Bramante (weil dahinter direkt die nächste Gasse verläuft, war kein Platz für einen richtigen Chor). Danach besuchte ich noch das Museo del Novecento, relativ neu und direkt neben dem Dom gelegend, von dem Bekannten aus Mailand sehr empfohlen – und in der Tat unbedingt sehenswert. Da kann man z.B. auch die schöne Entdeckung machen, dass Dino Buzzati gemalt hat (und wie mir scheint als Vorläufer des hochverehrten Pfarr zu betrachten ist):
Eine andere Entdeckung war Elena Mezzadra, von der ich noch nie gehört hatte. Von Lokalmatadoren wie Marino Marini gibt es in Mailand haufenweise Werke zu sehen (s.u.), manche davon gefielen mir sehr gut, aber einiges sprach mich überhaupt nicht an. Als ich gegen Ende des Museums angelangt war – dachte ich zumindest – hörte ich eine laute Stimme, dann Applaus … und nein, das war nicht etwa eine gerade zu Ende gegangene Museumsführung sondern die Einleitung eines Konzertes mit Studenten des Konservatoriums (zu dem ich später wieder wollte, um das nächste Konzert zu hören und daher an sich gehen wollte, um noch einen Moment Erholung zu finden). Natürlich blieb ich dann stehen und hörte zu, das ganze dauerte etwas über eine Stunde und war wenigstens vom Repertoire her hörenswert:
Die Stück von Honegger für Flöte und Klavier zum Auftakt war exquisit, ich will mich bald einmal nach Aufnahmen von Honeggers Kammermusik umsehen, allein deswegen, weil mir diese Romanze so gut gefiel. Danach folgten leider weniger überzeugende Darbietungen, die Poulenc-Stücke etwas planlos, die Mélodies von Honegger ganz in Ordnung aber doch nicht vollends überzeugend (aber eine gute Stimme war vorhanden), die Chansons von Milhaud dann mit einer völlig in Leere laufenden Pseudo-Virtuosität dargeboten (und man fragt sich bei allem Respekt, ob die Musikerinnen wussten, wovon sie sangen). Zum Glück wurde das am Ende durch die ganz ordentliche „Scaramouche“ wieder etwas aufgefangen. Gelohnt hat sich das aber alleweil, allein um das Flötenstück Honeggers kennenzulernen. Danach rasch wenden im Hotel und weiter zum Konservatorium:
Sala Verdi, Conservatorio di Milano – 31.1.
HAYDN: Quartetto in fa maggiore op. 77 n. 2 Hob.III.82
RAVEL: Quartetto in fa
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BEETHOVEN: Quartetto n. 14 in do diesis minore op. 131
TAKÁCS QUARTET
Edward Dusinberre, Violine
Károly Schranz, Violine
Geraldine Walther, Viola
András Fejér, Violoncello
Und das war nun the real deal, keine Frage! Haydn war ein etwas verhaltener Auftakt – der Gedanke, den mein Bekannter nach dem Konzert äusserte, war mir auch durch den Kopf gegangen: Haydn sollte man am besten in ganz seinen Quartetten gewidmeten Konzerten aufführen. Aber schon da war das äusserst lebendige Spiel des Takács Quartetts zu bewundern, das in Ravels Quartett dann richtig schön zur Geltung kam. Da ist kein elegant geschliffener Gleichklang sondern ein bebender, vibrierender Körper, an dem alle vier ihren Anteil hatten, den sie gemeinsam im Spiel erschaffen. Ravels Musik flimmerte in allen Farben und summte, wie ein Bienenstock, der Blick schien durch ein Prisma zu gehen, aber – zugleich, und das war enorm faszinierend – auch durch ein Vergrösserungsglas, das erst offenbarte, was in Ravels Stück alles steckt. Besonders toll war der Pizzicato-Teil im zweiten (?) Satz. Nach der Pause folgte dann die Krönung mit Beethoven – ich habe ja bekanntlich seine Streichquartette noch nicht angepackt und es war ein beeindruckendes Erlebnis, dieses späte Quartett in so fähigen Händen zum ersten Mal überhaupt bewusst zu hören. Jedenfalls funktionierte der Zugriff des Quartetts perfekt, das Nervöse Flirren sorgte für eine ungeheure Lebendigkeit, einmal mehr schien die Musik fast körperlich greifbar zu werden, so plastisch die Darbietung.
Zum Abendessen ging es nach dem Konzert ins Brera-Viertel, wo man relativ einfach später noch etwas kriegen kann, wie ich mir erklären liess. Am nächsten Tag, bereits dem letzten in Mailand, kehrte ich morgens gleich dahin zurück, denn es stand die Pinacoteca di Brera auf dem Plan, die eine ganze Reihe von Meisterwerken beherbergt. Ich finde es immer wieder eine feine Sache, vor grossartigen Gemälden zu stehen, die man aus Abbildungen längst kennt – z.B. Mantegnas Cristo morto e dolenti, das die Verkürzung der Perspektive so drastisch umsetzt, Caravaggios „Cena in Emmaus“ mit dem wahnsinnigen Licht, Tintorettos irres Il ritrovamento del corpo di san Marco oder Piero della Francescas Pala Montefeltro, auf dem natürlich vorne der Herr mit der Nase kniet. Dies nur ein paar der für mich ganz grossen Highlights, die unzähligen Schulklassen sassen – neben dem Bild von Tintoretto – noch vor zahlreichen anderen, meist von den Massen her riesigen Gemälden. Es gibt aber auch ein paar Ecken mit Malerei jüngerer Zeit, in der die Inspiration der Szene mit dem Pferdekopf in „The Godfather“ zu finden ist – Pablo Picassos „Kopf eines Stieres“ von 1942:
Dieses Mal klappte es dann – natürlich nach einem guten Mittagessen – mit der Siesta, denn am Abend stand der letzte schon länger geplante Programmpunkt bevor, mein erster Besuch in der Scala:
VERDI: Don Carlo
Oper in fünf Akten, Libretto von Joseph Méry & Camille du Locle
Teatro alla Scala Chorus and Orchestra
Conductor: Myung-Whun Chung
Salzburg Festival Production
Staging: Peter Stein
Sets: Ferdinand Woegerbauer
Costumes: Anna Maria Heinreich
Lights: Joachim Barth
Elisabetta di Valois: Krassimira Stoyanova
La principessa di Eboli: Ekaterina Semenchuk
Don Carlo: Francesco Meli
Rodrigo: Simone Piazzola
Filippo II: Ferruccio Furlanetto
Il Grande Inquisitore: Eric Halfvarson
Un frate: Martin Summer
Voce dal cielo: Céline Mellon
Thibault: Theresa Zisser
Da möchte ich auf meine Zeilen zur Wiederaufnahme der Züricher Inszenierung verweisen, denn es scheint mir sinnvoll bzw. ich kann gar nicht anders denn die beiden Opernabende im Vergleich zu betrachten.
Der Hauptunterschied liegt in der gewählten Fassung: in Mailand gab man die vollständige italienische Version in fünf Akten, was dem Stück auf jeden Fall gut tut bzw., finde ich, an sich die einzige Version ist, die man überhaupt spielen sollte. Kürzen hätte man z.B. bei den Pausen können, denn schon nach dem ersten Akt – gemäss dem Plakat, das im Foyer hing ca. 35 Minuten lang – folgte die erste 25minütige Pause, nach dem zweiten Akt (ca. 67 Minuten) die zweite, nach dem dritten (ca. 43 Minuten) die dritte, die „nur“ noch 20 Minuten dauerte, den vierte und fünften gab man dann dankenswerterweise am Stück (ca. 80 Minuten). Mir hätte die dritte Pause gereicht, aber gut, man sitzt auf den Rängen (ich sass in der ersten Galerie) so dicht beieinander, dass es eine Zumutung ist (es gibt nicht einmal Unterteilungen zwischen den Sitzen, keine Armlehnen, um den hochverehrten Archilochos zu parodieren: man sitzt buchstäblich Arsch an Arsch, Schenkel an Schenkel. Aber kurz aufstehen kann man auch bei den Vorhängen, Szenenwechseln, wenn die Bühne umgebaut wird. Und wenn man erstmal raus geht, zuerst bei der Kasse und dann an der Bar ansteht, um sich einen überteuerten Drink zu holen, braucht man halt auch 25 Minuten. Aber gut, soviel dazu.
Die Inszenierung aus Salzburg kannte ich schon von der TV-Übertragung, die hier inzwischen auch als BluRay herumliegt – der hatten ja Anja Harteros und Jonas Kaufmann die grossen Hauptrollen gesungen (ein Teil der Faszination des „Don Carlo“ liegt ja auch darin, dass es sechs Hauptrollen gibt und dass sich von den Sechsen keine_r verstecken kann). Die Kostüme und die Bühne schienen mir etwas heller und bunter, aber das mag an der Differenz zwischen den oft engen Bildausschnitten einer solchen Opern-Produktion und dem Live-Erlebnis mit der Sicht auf die komplette Bühne. Das Bühnenbild und die Kostüme fand ich Zürich sehr viel eindringlicher, aber schauspielerisch war die Aufführung in Mailand um Welten besser: in Zürich hatte man sich auf das Herumstehen und Armrudern beschränkt (Sven-Erich Bechtolf halt, ich begreife nicht, warum der immer wieder an den ersten Häusern Aufführungen in den Boden rammen darf). Aber die Strenge, die Eindringlichkeit – und der rabenschwarze Zynismus von Zürich gingen der Stein-Inszenierung ab, die im Vergleich fast ein klein wenig harmlos scheinen wollte (und da und dort halt zu sehr Pappmaché-Theater war). Alles in allem war es nicht ein so intensives Erlebnis wie in Zürich, auch weil mich die Sänger_innen insgesamt nicht ganz so sehr zu überzeugen vermochten. Francesco Meli in der Titelrolle fand ich jedoch sehr überzeugend (und damit etwas besser als Vargas), doch Stoyanova hatte einen schweren Stand gegen Harteros, anfangs hatte ich mir ihr ziemlich Mühe, später wurde sie immer besser. Die beiden Bässe waren – wie in Zürich – hervorragend, der Posa von Piazzola reichte an Mattei nicht ganz heran, war aber ebenfalls sehr gut. Selbiges gilt für die Eboli von Semenchuk und Prudenskaya.
Das Orchester war in erster Linie einfach anders, ohne zu werten, doch fand ich die düstere Züricher Sichtweise stringenter und zwingender – und letztlich passte dazu auch die gekürzte Fassung: da war eben alles auf den Punkt, wer braucht ob all der Schicksalsmacht noch den Plot verstehen? In Zürich unter Luisi ging es ruppig zur Sache, wurde laut (eine entfernte Bekannte, die auch dort war, fand es sei zu laut, und ihr hat auch – @Bgigli – der Carlo von Vargas enorm gefallen, sie scheint aber Vargas überhaupt enorm zu mögen) und knallte, ohne dass das je billig wirkte oder Effekte zu erzwingen schien. In Mailand unter Myung-Whun Chung war der Orchesterklang ausgeglichener, runder, schöner – weniger lebendig, aber am Ende ähnlich plastisch und elastisch. Für mein Empfinden gelang es in Zürich besser, die Kraft der Musik – und die Kraft des Werkes überhaupt – zum Vorschein zu bringen. Dass Bühne und Kostüme dazu praktisch in Schwarz/Weiss getaucht waren, halt gewiss zur Verstärkung dieses Eindruckes. Auf jeden Fall hat sich der Besuch gelohnt – und die Möglichkeit, zwei Inszenierungen einer Lieblingsoper hintereinander zu sehen hat man ja auch nicht alle Tage.
Am nächsten Tag ging es weiter nach Turin, wo als erstes ein Mittagessen anstand, bei dem es auch galt, das am Vorabend opernbedingt ausgefallene Abendessen nachzuholen – ich ging, im Gedenken an F. N. aus R. durch die Strassen, doch es kam kein Pferd, an dessen Hals ich mich hätte werfen können (das oben ist nicht das Turin Horse sondern „Cavallo“ von Marino Marini aus der Brera). Stattdessen ging es an der Piazza Vittorio Veneto ins Porto di Savona, wo es einmal mehr exzellentes Risotto und danach einen üppigen Bollito misto gab. In einen Plattenladen ging es auch noch rasch (Nero Vinile, nicht schlecht, aber gekauft habe ich nichts), danach ein erster ausführlicher Gang durch das beeindruckende Zentrum Turins: an der Piazza San Carlo in die beiden Kirchen, auf einen Espresso an der Theke ins Caffè Torino, durch die Galleria San Federico und die Galleria Subalpina (wo ich in der kleinen La Feltrinelli ein kleines Buch über Antonioni und eines über Turin erstand) zur Piazza Castello, dort um den irren Palazzo Madama herum (herein dann beim nächsten Mal), zu San Lorenzo und schliesslich in den einzigen Renaissancebau, die überraschend schlichte und sehr klare Kathedrale – sogar vors Grabtuch habe ich es, gänzlich ungeplant, geschafft, musste aber ein pubertäres Kichern hartnäckig unterbinden, erst recht angesichts der Reden, die in dem Raum gehalten wurden … also Blick „demütig“ gen Boden und rasch weiter.
Am Abend, auf dem Heimweg aus dem Fratelli Marx („La La Land“ – ich habe dazu schon geschrieben), ging ich an der Mole Antonelliana vorbei, einem irren Gebäude, das zum Wahrzeichen Turnins wurde. Einst als Synagoge geplant aber nie gebraucht beherbergt es heute ein überaus sehenswertes Kinomuseum, in dem ich am Tag darauf auch noch ein paar anregende Stunden verbrachte. Doch zuerst besuchte ich die Museen des Polo Reale. Im Palazzo Reale der Savoyen und den angrenzenden Gebäuden ist – neben Räumlichkeiten des Palazzo, der Armeria Reale und des grossen Antikenmuseums – die eindrückliche Galleria Sabauda zu sehen, mit Bildern von Brueghel dem Jüngeren (unten ein Vanitas-Bild, für mich eines der Highlights des Museums), van Dyck, van der Weyden und vielen anderen.
Zum Mittagessen ging es danach nebenan in ein kleines aber feines Restaurant, das ein Freund mir empfohlen hatte (L’Osto del Borgh Vej, falls jemand mal nach Turin kommt), danach spontan in die Toulouse Lautrec-Ausstellung im Palazzo Chiablese, der auch an der Piazza Reale liegt – hat sich einigermassen gelohnt, zumal ich über seine Lebensgeschichte wenig bis nichts wusste. Danach ging ich weiter in Richtung Bahnhof (der mit dem Palazzo Reale die zentrale Achse bildet, einst schon – wenigstens beim Eintritt in die Piazza San Carlo, eine Römerstrasse) und in die grosse La Feltrinelli, wo es endlich „Minacantalucio“ gab, nach der ich schon in Mailand in diversen Läden vergeblich gesucht hatte. Nach dem bereits erwähnten Besuch im Museo del Cinema ging es nebenan ins Auditorium „Toscanini“ della RAI, wo ein tolles Konzert angesagt war, das ich erst ein paar Tage vor meiner Abreise mitgekriegt hatte. Es war das erste von dreien aus der Reihe „RAI NuovaMusica 2017“:
Auditorium „Toscanini“ della RAI, Torino – 3.2.
Orchestra Sinfonica Nazionale della RAI
Ingo Metzmacher direttore
Frank Peter Zimmermann violino
MAGNUS LINDBERG (1958): Concerto n. 2 per violino e orchestra (2015) (prima esecuzione italiana)
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GÉRARD GRISEY (1946-1998): Modulations, per 33 strumentisti (1976) (Espaces acoustiques, IV)
EDGARD VARÈSE (1883-1965): Ameriques (versione ridotta del 1927)
Zum Auftakt spielte Frank Peter Zimmermann das zweite Violinkonzert von Magnus Lindberg. Ein etwas plumpes, manchmal für meinen Geschmack gar plakatives Werk – ich musste da und dort an die Kritik von René Leibowitz an der Symphonik von Jean Sibelius denken: Die Orchestereinsätze waren vor allem wuchtig, hatten aber keine Richtung, nichts entwickelte sich, manche Idee hing lose im Raum – was nicht etwa anregend oder verwirrend wirkte, sondern einfach etwas planlos. Das klingt aber übler als es war, zumal Zimmermann sich dem Konzert mit Herz und Seele hingab und am Ende den letzten Zweifel ausräumen konnte, wenigstens was diese Aufführung betraf. Es gab einen gigantischen Applaus und eine Zugabe (ein Satz aus einer der Solo-Sonaten von Bach, habe mir aber nicht die Mühe gemacht, nach dem Konzert herauszukriegen, welcher es war). Nach der Pause richteten sich die 33 für Griseys „Modulations“ benötigten Musiker_innen auf der Bühne ein und schon bald flirrten faszinierende Klänge durch das moderne und einmal mehr klanglich sehr transparente Auditorium. Es ist ja bekannt, dass ich Grisey noch nicht kenne, doch wurden die Anleihen, die Steve Lehman bei Grisey macht, auch für meine Ohren sofort erkenntlich und als Erstbegegnung war das wohl perfekt. Der grosse Höhepunkt war dann Varèse, die überarbeitete Fassung von „Amériques“ (wobei ich nicht sicher bin, ob diese Angabe stimmte, es gab 15 Schlagzeuger auf der Bühne, was gemäss Wikipedia der Originalfassung entspricht). Jedenfalls ein Mordsspass, auch einmal solche Musik im Konzert zu erleben!
Und das war es dann auch schon fast. Ein Jahr nach dem ersten Besuch in Novara ging es zurück in das schicke Provinznest, dieses Mal früh genug, um nicht nur durch die (tatsächlich autofreie) Innenstadt zu schlendern sondern auch kurz den Kopf in den überladenen Dom und die viel schönere San Gaudenzio zu stecken und die Kunstausstellung im tollen Broletto anzuschauen, in dem es nur norditalienische Kunst v.a. des 19. Jahrhunderts gab, aber auch ein futuristischer Jahreszeiten-Zyklus von Leonardo Dudreville (185-1975) und – für mich die schönste Entdeckung – ein paar tolle Gemälde von Lorenzo Viani (1882-1936), hier „Burattini (o Le marionette“ von 1913-15:
Die Basilika San Gaudenzio mit ihrer hohen Kuppel blieb auch nach der Erbauung des Domes das Wahrzeichen von Novara. Auf dem höchsten Punkt der Stadt gebaut ist ihre Kuppel (übrigens auch von Alessandro Antonelli, von dem die Mole Antonelliana in Turin stammt) von überall her sichtbar. Von dort ging es in eines der skurrilsten Museen, die ich je besucht habe, das Museo Faraggiana, in dem eine riesige einst private Sammlung ausgestopfter Tiere zu sehen ist. Meine kleine Eselei auf dem Weg nach Novara hatte ich ja bereits erwähnt und auch mit dem traurigsten Objekt der Faraggiana illustriert – klick.
Zum Abschluss dieses langen Berichtes nochmal der Verweis auf den letzten Abend, der bereits im viel kürzeren Jazzbericht abgedeckt wurde, und zu guter Letzt hier noch David Teniers Portrait von Anna und David Brueghel aus der Galleria Sabauda.
Ach so: das Photo ganz oben stammt aus dem Santuario di San Bernardino alle Osse aus Mailand – unbedingt kurz reingehen, wenn ihr mal dort seid, liegt direkt neben der Piazza Fontana, einem leider gechichtsträchtigen Ort Mailands (mehr dazu hier).
Und wenn ich schon nochmal editiere, noch ein Bild zum Abschluss, Louise-Elisabeth Vigée Lebruns Potrait von Margherita Porporati, einmal mehr aus der Galleria Sabauda:
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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #158 – Piano Jazz 2024 (Teil 1) - 19.12.2024 – 20:00; #159: Martial Solal (1927–2024) – 21.1., 22:00; #160: 11.2., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba