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Das 1973 erscheinende Marjory RazorBlade ist Kevin Coynes zweites Solo-Album und der Beginn seiner Zusammenarbeit mit Virgin. Es wurde größtenteils aufgenommen im Virgin-Manor in Oxfordshire und nach Mike Oldfield ist er der zweite Musiker, den Richard Branson für das noch junge Label gewinnt.
Marjory RazorBlade ist ein Album, das in sich gespalten wirkt, ausgependelt zwischen den exzentrischen und den bluesig-rockigen Seiten des Künstlers und es war, nach Coynes eigenen Worten, Konzept des Labels, die Exzentrik immer wieder zu durchbrechen mit besser vermarktbaren Stücken:
They really wanted something like a band sound with a mixture of the more quirky…the real Kevin Coyne stuff strewn around occasionally, to add a little bit of eccentricity to the thing. But the main push being on a radio commercial-bound rock sound, I would say, something which maybe comes through on the records.*
Vielleicht liegt es an den exzentrischen Stücken, daß für den amerikanischen Markt das ursprüngliche Doppelalbum auf eine einzelne LP zusammengekürzt wurde, fehlen dort doch gerade die ungewöhnlichsten Stücke wie „Karate King“ oder „Good Boy“ und das Sologesangsstück „Marjory RazorBlade“ wird vom Opener zum Outro umpositioniert. Dabei ist es gerade diese scheinbare Zerrissenheit, die fast wie eine gewollte Struktur an diesem Album wirkt, geht es darauf doch auch in den Texten häufig um das Ausloten und Neubeleuchten dessen, was als „abnorm“ oder „normal“ im gesellschaftlichen Kontext kategorisiert wird. Und dabei geht Coyne ganz unprätentiös und mit – teilweise recht bitterem – Humor vor.
Coyne hatte Kunst studiert und danach begonnen, als Ergotherapeut in Heilanstalten zu arbeiten und er selbst beschreibt die frühen Alben als eine Form der Eigentherapie, der Verarbeitung des im Joballtag Erlebten. Viele der Texte portraitieren soziale Außenseiter mit tragischer Komik, aber immer mit deutlicher Sympathie. Da ist der alternde Soldat, der allein an einer Straßenecke steht, geschmückt mit den gewienerten Orden vergangener Größe, aber ansonsten an der Gegenwart gescheitert („Old Soldier“). Die Vorbeigehenden machen sich über ihn lustig, nur das Song-Ich nimmt ihn ungeschönt in seiner Tragik und Verlorenheit wahr und möchte etwas für ihn tun. Still I’d like to take you on a new campaign / Bring a little sunshine into your life / Instead of all that driving rain. Und immer wieder kehrt im Refrain die Frage an den Soldaten nach dem Warum für das Festhalten an etwas längst Vergangenem, für das Ausblenden der Gegenwart. Days go on, you can’t change / Not enough left of you to rearrange, stellt Coyne schließlich traurig fest und der verhaltene Ratschlag Build up something new klingt fast hilflos gegenüber dem in seiner Vergangenheit Gefangenen. Und immer wieder die aufrütteln wollende Frage nach dem Warum für den Selbstverlust.
„House on the hill“ zeigt den Anstaltsalltag. Die Insassen der Heilanstalt sind ruhiggestellt mit Medikamenten, nur leere Busse kommen dort an, niemand will dorthin und wenn man erst einmal dort ist, kommt man nicht mehr weg. Der Bürgermeister des naheliegenden Ortes kommt nur zu Ostern vorbei, immer lächelnd. Für einen Therapeuten ein sehr sarkastisches Bild, das Coyne hier zeichnet. Menschen, die einfach nur noch vorhanden sind, ohne an irgendetwas Anteil zu nehmen: Where the old ladies sit by the garden wall and they never hear the bluebird call / Never notice the leaves that fall cause they’re all crazy. Die Anstalt ist eine unwirkliche Insel, auf der überfreundliche Ärzte die Pillen für den Tag verteilen. In all seinem Sarkasmus läßt der Song keinen Zweifel daran, daß eigentlich Wut die untergründige Empfindung ist, die sich entlädt in den Zeilen: So if you know a way I can go from out of this show you know / You could give me a golden glow but you’re not trying / You’d never lift a regular hand, you call me a lazy man / Who on earth will ever understand I’m really trying. Wer dieses angesprochene Du ist, bleibt abstrakt. Aber es ist das Ausgeschlossen- und Abgeschobenwerden von Menschen, die im Alltag nicht ohne weiteres funktionieren, das diese Wut auslöst und sich immer wieder in dem verzweifelten Refrain ausdrückt: Funny, funny, funny, funny, oh so funny that’s it’s making me cry / Funny, funny, funny, funny, oh so funny Lord, sometimes I wish I could die.
Musikalisch sind beide Stücke zu den eingängigeren des Albums zu zählen. Die erste LP ist insgesamt die zugänglichere, abgesehen von dem Intro „Marjory RazorBlade“, das Coyne ohne instrumentelle Begleitung mit krächzender Stimme vorträgt. Das etwas an schnellere Stücke von Van Morrison erinnernde „Marlene“, das direkte und eingängige Rockstück „Eastbourne Ladies“, das Cover von „Lonesome Valley“, einer Bluegrass-Nummer der Carter Family, schließlich die beiden genannten langsameren Stücke – sie hätten das Album sicherlich bekannter gemacht, als es letztlich der Fall war. Coynes Vorlieben für amerikanische Blues- und Rockmusik zeigen sich hier deutlich.
In eine andere Richtung gehen die Tracks, die nicht mit Band eingespielt sind, sondern Solo oder mit dem Gitarristen Dave Clague, mit dem Coyne schon zuvor in der Band Siren zusammengespielt hatte. Hier kommt Coynes sarkastische Komik deutlicher zum Tragen. Die Stücke wirken in sich freier, von der Struktur her unkonventionell, die Texte sind stellenweise improvisiert (etwa, wenn Coyne auf „Dog Latin“ in ein unentwirrbares Gemurmel verfällt). Das antiklerikale „Dog Latin“, das sich über gutbürgerliche Erziehungsmethoden lustig machende „Good Boy“ oder „Chairman’s Ball“, das einen Ball der Upperclass karikierend ins Visier nimmt, sind von klar im Vordergrund stehender Komik und stehen im Kontrast zu den mal bitteren, mal liebevollen Außenseiterportraits, beleuchten die bürgerliche Welt ebenso als eine verbogene und unnatürliche. Ob es von Coyne beabsichtigt und Teil eines Albumkonzepts war, daß es gerade die freieren, unkonventionellen Stücke sind, die die bürgerlich gesetzten Normen auf die Schippe nehmen, während die konventionelleren Rockstücke sich eher den Außenseitern annehmen? Freilich spekulativ, wenn es auch Sinn machen würde.
Ich bin gerade erst frisch über Coyne gestolpert, auch wenn Marjory RazorBlade schon recht lange in meiner Sammlung ist. Ich habe es irgendwie nie als das tolle, vielschichtige Album wahrgenommen, das es ist. Manchmal wild und idealistisch, immer eindringlich, mit viel Energie und Originalität, auch in den exzentrischen Momenten unmittelbar zupackend. Ich brauche unbedingt mehr.
* Das ganze, recht informative Interview findet sich hier.
Tracklist der originalen Doppel-LP:
Side One
1. Marjory Razor Blade
2. Marlene
3. Talking To No One
4. Eastbourne Ladies
5. Old SoldierSide Two
1. I Want My Crown (trad. arr. KC)
2. Nasty
3. Lonesome Valley (A.P. Carter)
4. House On The Hill
5. Cheat MeSide Three
1. Jackie And Edna
2. Everybody Says
3. Mummy
4. Heaven In My View (A.P. Carter)
5. Karate KingSide Four
1. Dog Latin
2. This Is Spain
3. Chairman’s Ball
4. Good Boy
5. Chicken WingHörbeispiele:
House On The Hill
Cheat MeTracklist der US-Ausgabe:
Eastbourne Ladies
Old Soldier
Marlene
Everybody Says
Lovesick Fool (**)
House On The Hill
Nasty
Talking To No One
Dog Latin
I Want My Crown (trad. arr KC)
Marjory Razorblade
** nicht auf dem Originalalbum enthalten, aber als Single gesondert erschienen.Die CD-Version enthält außerdem „Sea Of Love“, die B-Seite der „Lovesick Fool“-Single.
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WerbungWhispers From The Offing – A Tribute To Kevin Coyne
Ist erhältlich über www.lifeandliving.net Eine Benefizplatte zugunsten eines Projekts zur Verbesserung der Lebenssituation psychisch kranker Menschen in London. Auf der CD sind Coverversionen u.a. von Nikki Sudden, Jowe Head, Heinz-Rudolf Kunze(!) und eine Hommage von Jackie Leven. Wer die Veröffentlichung nicht über paypal bestellen will, kann sie auch über mich beziehen. (Für Skeptiker und das Finanzamt: Ich verdiene nichts damit.)
Weitere Infos über Kevin Coyne:
www.kevincoyne.de (die offizielle hp)
www.kevincoynepage.tk (Pascal’s Archiv mit einer Fülle an Infos)
www.kevincoyne.tk (Eine nicht-kommerzielle KC group, „a place to meet and share with fans“)--
AnonymInaktivRegistriert seit: 01.01.1970
Beiträge: 0
Leute! Das Forum hilft! Ich war bisher immer auf der Suche nach einem „Kevin Loyne“, der 1998 von Will Oldham lt. der einer ansonst makellosen Web-Discographie (users.bart.nl/…) gecovert worden sei Die 7“ ist wie so oft bei Oldham schrecklich rar (1000 Stück). Hier covert er I confess und The sun shines down on me. Nun suchte ich immer nach den Originalen eines Loyne, und durch diesen Thread komme ich auf Coyne. Besten Dank dafür. Also benötige ich folgende Platte:
Babble – Songs for Lonely Lovers – 1979
Are You Deceiving Me? / Come Down Here / Dead, Dying … Gone / Stand Up / Lonely Man / I Really Love You / Sun Shines Down On Me / I Confess / Sweetheart / Shaking Hands With The Sun / My Mind’s Joined Forces / It’s My Mind / Love Together / Happy Homes / It Doesn’t RealIy Matter / We Know Who You Are.
(Virgin V 2128, UK; Virgin Ariola 200596, Germany) June 29 1979. Reissued on CD 1991, Virgin CDV 2128. Note: credited to Kevin Coyne and Dagmar Krause.
Befürchte ich zurecht, daß die ebenso unauffindbar ist wie die der Cover-Versionen?
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