Who's (Be)Bop?

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  • #2429963  | PERMALINK

    dr-nihil

    Registriert seit: 08.07.2002

    Beiträge: 15,356

    Gut, jetzt ich mal zu „The Black Saint and the Sinner Lady“. Klingt vielleicht teilweise etwas abgehoben, aber, ich glaube, anders kann ich in meiner Unwissenheit nicht über Jazz schreiben:

    Das erste richtige Jazzalbum, das ich mir kaufte war – Überraschung! – “Kind of Blue” von Miles Davis. Dass keine Missverständnisse aufkommen: ich mag dieses Album wirklich sehr gerne, es ist sehr schön, jedoch ist es für mich keineswegs die Offenbarung, die es wohl für manch anderen darstellt. “Kind of Blue” verstärkte damals sogar eine gar nicht so positive, vermutlich etwas stupide Meinung von mir zum Jazz, nämlich dass Jazz doch in erster Linie die Aneinanderreihung diverser Solos ist. Ich will nicht behaupten, dass “Kind of Blue” genau das und vor allem nur das ist, aber ein bisschen dachte ich wohl so über den Jazz.
    Aber es gab ja auch ein zweites richtiges Jazzalbum, das ich mir kaufte (dass bisher insgesamt nur recht wenige weitere dazu gekommen sind, liegt sicher nicht am Jazz, sondern vielmehr an meinen Finanzen und der auch nicht zu geringen Plattenauswahl in anderen Musikbereichen) und “The Black Saint and the Sinner Lady” von Charles Mingus war dann schließlich die große Bekehrung, ja: die Offenbarung.
    Auch auf diesem Album gibt es natürlich Solos, doch sie sind immer nur Teil eines Ganzens, Teil von einem dieser fantastischen vier Stücke, die zusammen ein noch viel größeres und atemberaubenderes Ganzes ergeben.
    Die ersten Male, als ich das Album hörte, war es für mich ein Stück Musik jenseits irdischer Sphären. Wie “Kid A” von Radiohead (zu dessen “National Anthem” im übrigen gerne Mingus zum Vergleich herangezogen wird). Doch dem ist nicht ganz so. Es gibt auch die Musik selbst betrachtend eine große Einheit und die ist dominierend. “The Black Saint and the Sinner lady” ist alles andere als ein leises Album. Ständig meint man viel mehr Musiker zu hören als wirklich zu hören sind, insbesondere was die Bläser angeht. Es ist ein äußerst bläserlastiges Album. Es sind teilweise schon riesige Mauern an Musik und Tönen, die man da entgegengesetzt bekommt. Und sie lassen sich alle fühlen. Manchmal melancholisch (in diesen Momenten werde ich im übrigen immer wieder an Bernard Herrmans Soundtrack zu “Taxi Driver“ erinnert). Manchmal bedrohlich. Spannungsgeladen. Dann plötzlich – immer nur kurz – diese Melodie am Anfang von Track C, die auch im vierten Stück zu hören ist, so schön und fröhlich und romantisch. Oft chaotisch. Und ekstatisch. Sicherlich nur schwer in unserer Welt einzuordnen.
    Track A ist gewissermaßen das “harmloseste” Stück des Albums, aber auch hier herrscht von diesem einleitenden, merkwürdig anmutenden Rhythmus an ein Ungut-Gefühl. Ein Ungut-Gefühl, das sich gewissermaßen am Ende des Tracks in der ersten “sprechenden” Trompete auflöst. Es ist aber natürlich kein Sprechen. Vielmehr hört man dieses eine Blasinstrument aus der Masse der anderen Instrumente heraus schreien, weinen, jammern und kreischen, auf jeden Fall ist es schmerzhaft. Gerade diese Momente des Albums, in denen die Musikmasse nicht alleine oder gar nicht im Vordergrund steht, bewegten mich, als ich die letzten Male das Album hörte. Momente, in denen vielleicht nur ein Piano oder die spanische Gitarre zu hören sind. Momente also, die in so krassem Gegensatz zu dem ansonsten vorherrschenden wilden Toben stehen und so zunächst einmal fremdartig erscheinen müssen. Das sind Momente, die Individualität ausdrücken und in denen Menschlichkeit steckt. Wenn beispielsweise in Track B eine heulende Trompete alleine mit den Drums zu kämpfen hat, dann möchte man ihr beinahe Mitleid entgegen bringen, so verletzlich wirkt sie. Oder der vielleicht schönste Augenblick des Albums im vierten Track: erneut die spanische Gitarre von Jay Berliner, doch diesmal wird sie begleitet von einer einzelnen Trompete. Dabei begleiten die beiden Instrumente sich gar nicht. Die Trompete versucht sofort zu erobern, die Gitarre zieht sich immer wieder zurück um stärker denn je wieder aufzutauchen, sie umspielen sich, umgarnen sich, ist das womöglich schon Sex?
    Und dann ganz am Schluss noch so ein Moment, ein einzelner Ton. Immer wieder wurde das selbe Thema schneller werdend der Ekstase entgegen gejazzt. Eine ständige Wiederkehr. So könnte das Album aufhören, doch es endet in einem einsamen letzten Klang. Man weiß nicht genau, ob dieser aus dem Jenseits kam oder im Jenseits verschwand…
    Während ich das gerade zu später Stunde, das Album, zumindest Teile, nach gestrigem intensiven Hören sehr gut im Kopf, relativ spontan (trotz Notizen, die ich mir machte) schreibe, merke ich, dass Jazz, womöglich mehr als andere Musik, Poesie ist.

    Und so sieht das Album übrigens aus (soll ja auch ein bisschen Farbe in unseren schönen Thread kommen):

    Und hier nochmal ein Bild von Charles Mingus, dem ersten Objekt unserer Jazz-Odyssee:

    (okay, so viel Farbe war das jetzt auch nicht)

    --

    Highlights von Rolling-Stone.de
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    #2429965  | PERMALINK

    jan-dark

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    sehr schön nihil.. :)

    --

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    #2429967  | PERMALINK

    saffer38

    Registriert seit: 26.08.2003

    Beiträge: 3,091

    Kompliment Jungs!!! Mehr davon!!! ;)

    #2429969  | PERMALINK

    flatted-fifth
    Moderator

    Registriert seit: 02.09.2003

    Beiträge: 6,027

    Originally posted by DR.Nihil@19 Oct 2004, 03:25
    Die Trompete versucht sofort zu erobern, die Gitarre zieht sich immer wieder zurück um stärker denn je wieder aufzutauchen, sie umspielen sich, umgarnen sich, ist das womöglich schon Sex?

    Daran hatte ich auch gedacht, daher meine Assoziation mit der Liebe…

    --

    You can't fool the flat man!
    #2429971  | PERMALINK

    atom
    Moderator

    Registriert seit: 10.09.2003

    Beiträge: 21,560

    @Dr. Nihil
    Eine sehr schöne Beschreibung des Albums.
    Ich kann im Übrigen dein Empfinden für Kind Of Blue in großen Teilen nachvollziehen. Es ist vielleicht zuviel verlangt für ein erstes Jazz Album, daß es all das einlöst, was viele von ihm versprechen.
    Gut, daß Du nicht mit diesem Album aufgehört hast.

    --

    Hey man, why don't we make a tune... just playin' the melody, not play the solos...
    #2429973  | PERMALINK

    saffer38

    Registriert seit: 26.08.2003

    Beiträge: 3,091

    sehe ich auch so, atom! Selbst im Zusammenhang von Davis' Gesamtwerk finde ich „Kind of Blue“ zu sehr herausgestellt, als zu singuläres „Ereignis“ bewertet. Davis hat vor und nach „Blue“ Musik gemacht, die genauso innovativ, emotional-tief, „moody“ war wie dieses! Und auch der Aspekt der modalen Spielweise wurde zuvor (Milestones) schon wesentlich aufregender bearbeitet.

    Nevertheless, ein Klassiker, klar – aber nicht DAS Schlüsselwerk des Jazz!

    #2429975  | PERMALINK

    dr-nihil

    Registriert seit: 08.07.2002

    Beiträge: 15,356

    Originally posted by Banana Joe@19 Oct 2004, 09:12
    Daran hatte ich auch gedacht, daher meine Assoziation mit der Liebe…

    Ja, Liebe hätte ich natürlich auch schreiben können, aber Sex klang für mich reißerischer ;) und trifft es vielleicht – hört man sich die Stelle nochmal an – wirklich am besten.

    Kann mir vielleicht kurz jemand erklären, was genau „modale Spielweise“ ist?

    --

    #2429977  | PERMALINK

    hat-and-beard
    dial 45-41-000

    Registriert seit: 19.03.2004

    Beiträge: 20,486

    Originally posted by DR.Nihil@19 Oct 2004, 12:58
    Kann mir vielleicht kurz jemand erklären, was genau „modale Spielweise“ ist?

    Nein, kurz leider nicht. Vielleicht heute abend, wenn ich etwas Geduld und mehr Zeit habe. Aber ansonsten lasse ich gern atom den Vortritt.

    --

    God told me to do it.
    #2429979  | PERMALINK

    saffer38

    Registriert seit: 26.08.2003

    Beiträge: 3,091

    Originally posted by DR.Nihil@19 Oct 2004, 11:58

    Kann mir vielleicht kurz jemand erklären, was genau „modale Spielweise“ ist?

    Kurz geht das wirklich nicht so einfach, irgendwo (ich glaube beim Jubiläums-Thread) haben wir damit auch schon mal angefangen, atom übernehmen Sie ;)

    #2429981  | PERMALINK

    atom
    Moderator

    Registriert seit: 10.09.2003

    Beiträge: 21,560

    Ganz grob:
    Eine der zentralen Eigenschaften des modalen Jazz' ist das improvisieren des Solisten über Tonleitern (Skalen) und nicht über Akkorde. Die begleitenden Musiker spielen dabei sehr häufig in repetitiven Akkordfolgen. Ein wesentlicher Aspekt ist dabei das rekurrieren sowohl auf bekannte westliche Kirchentonarten als auch auf asiatische und andere außereuropäische Tonarten.

    --

    Hey man, why don't we make a tune... just playin' the melody, not play the solos...
    #2429983  | PERMALINK

    saffer38

    Registriert seit: 26.08.2003

    Beiträge: 3,091

    sehr gut, atom, ist eigentlich nichts mehr hinzufügen! :rolleyes:

    #2429985  | PERMALINK

    dr-nihil

    Registriert seit: 08.07.2002

    Beiträge: 15,356

    Ja, verstanden, aber raushören würde ich es bestimmt nicht.

    --

    #2429987  | PERMALINK

    atom
    Moderator

    Registriert seit: 10.09.2003

    Beiträge: 21,560

    Originally posted by DR.Nihil@19 Oct 2004, 15:10
    Ja, verstanden, aber raushören würde ich es bestimmt nicht.

    Ist auch nicht so wichtig, finde ich. Eine musikwissenschaftliche Herangehensweise ist sowieso meist mit wenig Spaß am Jazz verbunden.
    Man kann aber dennoch recht schnell ein Gespür für den modalen Jazz bekommen, da er viel „meditativer“ als andere Spielarten wirkt.

    --

    Hey man, why don't we make a tune... just playin' the melody, not play the solos...
    #2429989  | PERMALINK

    captain-kidd

    Registriert seit: 06.11.2002

    Beiträge: 4,140

    Originally posted by dougsahm@17 Oct 2004, 09:20
    Hat sich die letzten 12 Monate wohl zu DEM Konsens-Album hier entwickelt. Nicht unberechtigt – aber (für mich) nicht voraussehbar.

    Für mich absolut auch nicht. Kann ja nur von mir ausgehen. Da hat es lange lange gedauert, bis ich das Album mochte. Damals als Jazznovize war es mir zu dunkel, zu verschroben, zu zersplittert, zu free. Mochte eigentlich immer nur dieses Flötenintermezzo im dritten Akt. Als Einsteigeralbum würde ich es daher eigentlich nie empfehlen. Dabei ist es natürlich ein starkes Album. Ohne Frage. Besonders Butter Jackson, Butterfield und Mariano gefallen mir. Neben dem gesamten Ensembleklang, klar. Nur mit den Gitarrenbreaks kann ich noch immer nichts anfangen. Das klingt mir zu stereotyp irgendwie. Ansonsten ein tolles Album im Stile Ellingtons.

    --

    Do you believe in Rock n Roll?
    #2429991  | PERMALINK

    saffer38

    Registriert seit: 26.08.2003

    Beiträge: 3,091

    Originally posted by atom@19 Oct 2004, 14:20
    Man kann aber dennoch recht schnell ein Gespür für den modalen Jazz bekommen, da er viel „meditativer“ als andere Spielarten wirkt.

    Sehr schön gesagt!!! Mir geht das genauso, wenn ich so typisch modale Stücke wie eben „Milestones“, „Joshua“o.ä. höre!

    Besonders schön, finde ich das bei „Milestones“ (dem Stück) wenn nach Tranes sehr erdigem Solo, Miles sein Trompetensolo in modaler Perfektion beginnt…sofort fängt das ganze Ding an zu fliegen….beautiful!!! :rolleyes:

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