Re: Who's (Be)Bop?

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dr-nihil

Registriert seit: 08.07.2002

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Gut, jetzt ich mal zu „The Black Saint and the Sinner Lady“. Klingt vielleicht teilweise etwas abgehoben, aber, ich glaube, anders kann ich in meiner Unwissenheit nicht über Jazz schreiben:

Das erste richtige Jazzalbum, das ich mir kaufte war – Überraschung! – “Kind of Blue” von Miles Davis. Dass keine Missverständnisse aufkommen: ich mag dieses Album wirklich sehr gerne, es ist sehr schön, jedoch ist es für mich keineswegs die Offenbarung, die es wohl für manch anderen darstellt. “Kind of Blue” verstärkte damals sogar eine gar nicht so positive, vermutlich etwas stupide Meinung von mir zum Jazz, nämlich dass Jazz doch in erster Linie die Aneinanderreihung diverser Solos ist. Ich will nicht behaupten, dass “Kind of Blue” genau das und vor allem nur das ist, aber ein bisschen dachte ich wohl so über den Jazz.
Aber es gab ja auch ein zweites richtiges Jazzalbum, das ich mir kaufte (dass bisher insgesamt nur recht wenige weitere dazu gekommen sind, liegt sicher nicht am Jazz, sondern vielmehr an meinen Finanzen und der auch nicht zu geringen Plattenauswahl in anderen Musikbereichen) und “The Black Saint and the Sinner Lady” von Charles Mingus war dann schließlich die große Bekehrung, ja: die Offenbarung.
Auch auf diesem Album gibt es natürlich Solos, doch sie sind immer nur Teil eines Ganzens, Teil von einem dieser fantastischen vier Stücke, die zusammen ein noch viel größeres und atemberaubenderes Ganzes ergeben.
Die ersten Male, als ich das Album hörte, war es für mich ein Stück Musik jenseits irdischer Sphären. Wie “Kid A” von Radiohead (zu dessen “National Anthem” im übrigen gerne Mingus zum Vergleich herangezogen wird). Doch dem ist nicht ganz so. Es gibt auch die Musik selbst betrachtend eine große Einheit und die ist dominierend. “The Black Saint and the Sinner lady” ist alles andere als ein leises Album. Ständig meint man viel mehr Musiker zu hören als wirklich zu hören sind, insbesondere was die Bläser angeht. Es ist ein äußerst bläserlastiges Album. Es sind teilweise schon riesige Mauern an Musik und Tönen, die man da entgegengesetzt bekommt. Und sie lassen sich alle fühlen. Manchmal melancholisch (in diesen Momenten werde ich im übrigen immer wieder an Bernard Herrmans Soundtrack zu “Taxi Driver“ erinnert). Manchmal bedrohlich. Spannungsgeladen. Dann plötzlich – immer nur kurz – diese Melodie am Anfang von Track C, die auch im vierten Stück zu hören ist, so schön und fröhlich und romantisch. Oft chaotisch. Und ekstatisch. Sicherlich nur schwer in unserer Welt einzuordnen.
Track A ist gewissermaßen das “harmloseste” Stück des Albums, aber auch hier herrscht von diesem einleitenden, merkwürdig anmutenden Rhythmus an ein Ungut-Gefühl. Ein Ungut-Gefühl, das sich gewissermaßen am Ende des Tracks in der ersten “sprechenden” Trompete auflöst. Es ist aber natürlich kein Sprechen. Vielmehr hört man dieses eine Blasinstrument aus der Masse der anderen Instrumente heraus schreien, weinen, jammern und kreischen, auf jeden Fall ist es schmerzhaft. Gerade diese Momente des Albums, in denen die Musikmasse nicht alleine oder gar nicht im Vordergrund steht, bewegten mich, als ich die letzten Male das Album hörte. Momente, in denen vielleicht nur ein Piano oder die spanische Gitarre zu hören sind. Momente also, die in so krassem Gegensatz zu dem ansonsten vorherrschenden wilden Toben stehen und so zunächst einmal fremdartig erscheinen müssen. Das sind Momente, die Individualität ausdrücken und in denen Menschlichkeit steckt. Wenn beispielsweise in Track B eine heulende Trompete alleine mit den Drums zu kämpfen hat, dann möchte man ihr beinahe Mitleid entgegen bringen, so verletzlich wirkt sie. Oder der vielleicht schönste Augenblick des Albums im vierten Track: erneut die spanische Gitarre von Jay Berliner, doch diesmal wird sie begleitet von einer einzelnen Trompete. Dabei begleiten die beiden Instrumente sich gar nicht. Die Trompete versucht sofort zu erobern, die Gitarre zieht sich immer wieder zurück um stärker denn je wieder aufzutauchen, sie umspielen sich, umgarnen sich, ist das womöglich schon Sex?
Und dann ganz am Schluss noch so ein Moment, ein einzelner Ton. Immer wieder wurde das selbe Thema schneller werdend der Ekstase entgegen gejazzt. Eine ständige Wiederkehr. So könnte das Album aufhören, doch es endet in einem einsamen letzten Klang. Man weiß nicht genau, ob dieser aus dem Jenseits kam oder im Jenseits verschwand…
Während ich das gerade zu später Stunde, das Album, zumindest Teile, nach gestrigem intensiven Hören sehr gut im Kopf, relativ spontan (trotz Notizen, die ich mir machte) schreibe, merke ich, dass Jazz, womöglich mehr als andere Musik, Poesie ist.

Und so sieht das Album übrigens aus (soll ja auch ein bisschen Farbe in unseren schönen Thread kommen):

Und hier nochmal ein Bild von Charles Mingus, dem ersten Objekt unserer Jazz-Odyssee:

(okay, so viel Farbe war das jetzt auch nicht)

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