Forums-Anthologie (Lyrisches)

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  • #1360359  | PERMALINK

    dr-nihil

    Registriert seit: 08.07.2002

    Beiträge: 15,356

    Noch um einiges perverser als „Kleine Aster“ mutet eben die „Krebsbaracke“ an. Wie ich damals auch in der Schule lernte, ist „Morgue“ auch Protest gegen das damals herrschende mechanische Menschenbild. Das im folgenden beschriebene „Fleischliche“ (oder wie man es nennen mag) wird durchaus mit Pathos angereichert (Pathos ist vielleicht auch nicht ganz der richtige Ausdruck hier – möglicherweise ist es eine gewisse abstoßende Erotik), was dem ganzen, wie ich finde, einen faszinierenden Reiz gibt – ekelhaft ist es trotzdem:

    wie kommst du auf „mechanisches weltbild“? finde ich nicht, dass das damals herrschte.
    ich sehe die gedichte ohnehin vielleicht ganz anders. für mich sind sie eher die suche eines jungen arztes durch verarbeitung seiner erfahrungen ein stück menschlichkeit wiederzufinden.. das drübersprechen und schreiben über elend, krankheit und tod enttabuisieren sie, machen sie aber damit auch zutiefst menschlich. eine annäherung an den menschen also, keine abwendung.
    und den ratten hat ers dann ja auch wunderschön gegeben. so viel menschlichkeit muss sein, dass die sich nicht auch noch auf unsere kosten ein schönes leben machen können.

    Das mit dem „mechanischen Menschenbild“ habe ich, wie gesagt, wenn mich richtig erinnere aus der Schule. Weiß nicht so genau, was für ein Menschenbild vor 90 Jahren so herrschte.

    Ansonsten sehe ich das schon anders als du. Ich denke auch nicht, dass er es den Ratten „gibt“. Im Gegenteil! Allein schon der Titel: „Schöne Jugend“ Der Titel stellt die Ratten in den Mittelpunkt, ihnen schenkt er ein „Ach“ (ich empfinde dieses nicht unbedingt als ironisch), sie werden verniedlicht (SchwesterCHEN), der Mensch ist doch genauso wie in „Kleine Aster“ nur leblose Natur.

    --

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    #1360361  | PERMALINK

    dr-nihil

    Registriert seit: 08.07.2002

    Beiträge: 15,356

    Nochmal zu dem „mechanischen Menschenbild“:

    ich denke, dass ist ja auch ein typisches Thema der Expressionisten (zu denen Benn gemeinhin gerechnet wird, wenn ich ihn auch immer keinesfalls als einen typischen Expressionisten sah)zu dieser Zeit. Der Mensch, der im Laufe der Industrialisierung selbst zu einer Maschine oder maschinell wurde (denken wir an Charlie Chaplin im Zahnrad). Benn zeigt, dass das der Mensch aber keineswegs ist, sondern dieser ist vor allem ein organisches Wesen (ich meine, in „Kleine Aster“ und „Schöne Jugend“ wird er sogar darauf beschränkt – in „Gehirne“ kommt noch die überaus emotionale Ebene des Menschseins dazu, so wie ich es verstehe).

    --

    #1360363  | PERMALINK

    dr-nihil

    Registriert seit: 08.07.2002

    Beiträge: 15,356

    Puh… harte Kost zum Frühstück.

    Dieses sollst du dir ja auch abgewöhnen! :D

    --

    #1360365  | PERMALINK

    otis
    Moderator

    Registriert seit: 08.07.2002

    Beiträge: 22,557

    werden uns da nicht einig.
    „ironie“ ist wohl auch nicht das rechte wort.

    es war damals die zeit des „expressionismus“, für mich eine zeit der „selbstfindung“ der menschen in einer immer brühigeren gesellschaftsordnung (siehe buddenbrooks). diese war aber nicht mechanistisch.
    eine zeit der suche und orientierung. und mit sicherheit eine abkehr von falschen idealen, von dem brüchigen, gesellschaftlich akzeptierten „schönen“ etc. hin zu einer unverstellten sicht auf menschsein, natur, gesellschaft. so spielt beides rein, abkehr von altem und z.t. hilflose suche nach neuem.

    der mann erklärt und zeigt der frau wies ausschaut in der rauen wirklichkeit. komm guck hin!!! es ist meine arzt-welt, es ist auch deine welt.
    es ist kein zynismus. nicht ironie. wenn er die ratten betrachtet, ihr wohliges leben und laben, es ist ein „euch triffts auch noch“-triumph.
    und gleichzeitig, da es uns alle irgendwie trifft, lasst die aster blühen.

    es ist eine sektion ohne pathos (das lese ich auch nirgendwo), an einer letzten endes wohl schon todkranken gesellschaft.

    --

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    #1360367  | PERMALINK

    otis
    Moderator

    Registriert seit: 08.07.2002

    Beiträge: 22,557

    chaplin im zahnrad war 20 jahre später!!!!
    industrialisierung gabs schon, na klar. aber fließbandarbeit etc alles später!!!!
    nein, das ist es nicht, nihil!

    --

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    #1360369  | PERMALINK

    dr-nihil

    Registriert seit: 08.07.2002

    Beiträge: 15,356


    der mann erklärt und zeigt der frau wies ausschaut in der rauen wirklichkeit. komm guck hin!!! es ist meine arzt-welt, es ist auch deine welt.
    es ist kein zynismus. nicht ironie. wenn er die ratten betrachtet, ihr wohliges leben und laben, es ist ein „euch triffts auch noch“-triumph.
    und gleichzeitig, da es uns alle irgendwie trifft, lasst die aster blühen.

    es ist eine sektion ohne pathos (das lese ich auch nirgendwo), an einer letzten endes wohl schon todkranken gesellschaft.

    Ja, okay, das gefällt mir im großen und ganzen eigentlich ganz gut, was du schreibst.
    Nur: wenn du vom „euch triffts auch noch“-Triumph sprichst, dann halte ich das im Zusammenhang mit dem übertrieben dargestellten „Ach“-Mitleid durchaus für Ironie. Ist es keine Ironie dann ist es doch echtes Mitleid, ein Mitleid, welches er für das tote Mädchen nicht übrig hatte.

    Und nur: die „todkranke Gesellschaft“ sah ich auch schon immer in der „Krebsbaracke“, aber wie steht der „Mann“ ihr gegenüber? Man muss es, wie gesagt, nicht Pathos nennen (ist sicherlich der falsch Ausdruck), aber guckt man sich z.B. die dritte Strophe an: ist das nur ein nüchternes, aufforderndes „Komm, sieh…!“ oder steckt nicht doch in „das Fleisch ist weich und schmerzt nicht“ (dieser Satz hat so etwas sinnliches) nicht eine gewisse Faszination für all das seitens des Mannes? Ich habe das Gefühl, er fühlt sich absolut nicht unwohl in dieser „todkranken Gesellschaft“. Aber das sind nur Momente…, du hast schon recht, meistens ist es ein hartes Zeigen des Mannes in kurzen nüchternen Sätzen.

    --

    #1360371  | PERMALINK

    otis
    Moderator

    Registriert seit: 08.07.2002

    Beiträge: 22,557

    faszination?? ja und nein.
    hier stehen männliches und weibliches sehen/fühlen sich gegenüber. „härte“ vs „fühligkeit/sinnlichkeit“. und er will es ihr schonungslos geben, so dass sie es auch wirklich richtig versteht!

    natürlich wollte er auch schocken damals. und niemals hatte er mitleid mit den ratten.
    nenne es meinetwegen ironie.
    nein, das „ach“ ist zynismus. endlich mal einer gefunden!

    tröstlich aber, dass es in der krebsbaracke noch dialog zwischen menschen gibt. hätte dieser leichendemo vom benn damals gar zu gern zugesehen!
    übrigens fehlt mir diese dimension bei von hagens fast völlig. was ich zusätzlich nicht gut finde!

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    #1360373  | PERMALINK

    dr-nihil

    Registriert seit: 08.07.2002

    Beiträge: 15,356

    Leichendemo?

    Ich meinte, natürlich nie wirklich Mitleid für die Ratten, sondern die Darstellung von Mitleid für die Tierchen als Mittel das Nichtvorhandensein von Emotionen gegenüber dem menschlichen Leichnam zu verdeutlichen, zu verstärken. Aber vermutlich hast du hier besser interpretiert.

    Darf ich fragen? Hast du mal Geschichte studiert oder ähnliches? (diese Frage bezieht sich natürlich nicht auf deine Fähigkeit Gedichte von Gottfried Benn zu deuten)

    --

    #1360375  | PERMALINK

    otis
    Moderator

    Registriert seit: 08.07.2002

    Beiträge: 22,557

    na gut, körperverfallsdemo.

    nein, eigentlich nicht geschichte.

    --

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    #1360377  | PERMALINK

    dr-nihil

    Registriert seit: 08.07.2002

    Beiträge: 15,356

    na gut, körperverfallsdemo.

    nein, eigentlich nicht geschichte.

    Ich dachte, weil „für mich eine zeit der „selbstfindung“ “ klang so, als ob du dabei gewesen wärst und da du so alt nicht bist, hätte ich gedacht, vielleicht hat er es zumindest studiert, die Zeit.

    --

    #1360379  | PERMALINK

    dr-nihil

    Registriert seit: 08.07.2002

    Beiträge: 15,356

    Falls es interessiert:
    unter http://www.8ung.at/hai/lgehirne.htm findet ihr die von mir erwähnte kurze Erzählung „Gehirne“ von Gottfried Benn.

    --

    #1360381  | PERMALINK

    joerg-koenig

    Registriert seit: 09.08.2002

    Beiträge: 4,078

    Ein Vierzeiler, der intuitiv das Wesen großer Kunst erfasst:

    Joseph Freiherr von Eichendorff: Wünschelrute

    Schläft ein Lied in allen Dingen,
    die da träumen fort und fort.
    Und die Welt hebt an zu singen,
    triffst du nur das Zauberwort
    .

    --

    Wenn wir schon alles falsch machen, dann wenigstens richtig.
    #1360383  | PERMALINK

    dr-nihil

    Registriert seit: 08.07.2002

    Beiträge: 15,356

    Kenne von Eichendorff einige Gedichte, die mir gefallen, allerdings lasen wir im Deutsch-LK damals von ihm „Aus dem Leben eines Taugenichts“ und da hat er mir wenig gefallen.
    Hat er noch irgendwas gutes (mag sein, dass viele den „Taugenichts“ mögen) außerhalb der Lyrik geschrieben?

    --

    #1360385  | PERMALINK

    otis
    Moderator

    Registriert seit: 08.07.2002

    Beiträge: 22,557

    hat er nicht die mondnacht u.a. geschrieben, die schumann kongenial vertont hat.
    der taugenichts taugt wohl am ehesten zum verständnis der romantik weniger zur ichfindung heute :D

    --

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    #1360387  | PERMALINK

    dr-nihil

    Registriert seit: 08.07.2002

    Beiträge: 15,356

    der taugenichts taugt wohl am ehesten zum verständnis der romantik

    Ja, in diesem Zusammenhang hatten wir es wohl auch gelesen gehabt. Danach hatte ich dann, glaube ich, gedacht, dass Romantik was blödes ist (aber gibt natürlich viel schlimmeres als den „Taugenichts“, so ist es ja nicht).

    --

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