Antwort auf: Der letzte Film, den ich gesehen habe (Vol. II)

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Reality
(Regie: Quentin Dupieux – Frankreich, 2014)

Reality, ein neunjähriges Mädchen, findet eine mysteriöse VHS-Kassette im Bauch eines Wildschweins. Während ihre Eltern deren Existenz abstreiten, entwickelt sie eine regelrechte Obsession den Inhalt zu sehen. Dennis, der neurotische TV-Moderator einer lokalen Kochsendung, leidet an einer imaginären Hautkrankheit. Getrieben vom Unverständnis seiner Mitmenschen verliert er sich zunehmend in einen Verfolgungswahn. Jason, der Kameramann der Kochsendung, träumt von der Verfilmung seines Horrorfilm-Projekts. Voraussetzung ist allerdings, dass er innerhalb von 48 Stunden den perfekten Angstschrei findet. Schnell verliert sich der angehende Filmemacher jedoch bei der Suche und vermischt zusehend seine Träume mit der Realität.

Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, Quentin Dupieuxs („Wrong“, „Rubber“) neuesten Film „Réalité“ (Originaltitel) nach einem Teil der Laufzeit zu stoppen, um die Handlung zu rekapitulieren. Wie ich vermutet hatte, war dies auf einer geradlinigen erzählerischen Ebene gar nicht mehr möglich, denn hier schienen sich mehrere Möbiusbänder ineinander verheddert zu haben. Wie Bruchteile vieler verschiedener Spiegel liegen die Szenen des Films nebeneinander, mit der Möglichkeit, Schlieren des Ursprungsbilds in eine beliebige andere Scherbe zu reflektieren. Die Unsitte, einen Film vorauszudenken, auf die besserwisserisch-detektivische Art eines Sherlock Holmes, wird hier nicht nur ad absurdum geführt, es stehen grundsätzlich die Wahrnehmung des Kinos und der Realität zur Disposition. Und nicht nur das: Auch Träume, Albträume und Wahnsinn können sich ihrer zugewiesenen Plätze nicht sicher sein. Wenn Regisseur Dupieux zum Tanz auffordert, gilt Kneifen nicht.
Wie schon „Rubber“ ist auch „Réalité“ ein Spiel mit dem Absurden, dem (Genre-)Kino und den erzählerischen Regeln, die vermeintlich einzuhalten sind, um das Publikum bei Laune zu halten; dabei aber immer eine wunderbare Komödie, die vor witzigen und komischen Momenten nur so strotzt. Die leichten Längen aus „Rubber“ findet man in „Réalité“ nicht wieder, vielleicht auch deshalb, weil Dupieux sich nicht mal bemüht, ein konsistentes Narrativ vorzutäuschen, wie es in „Rubber“ noch geschah.
Hier ordnet sich alles der Willkür des Regisseurs unter, der ja nun wirklich in der Lage ist, das Publikum am laufenden Band zu manipulieren (und dies auch tut). Dupieux macht seinen Zuschauern schnell klar, dass ihre erarbeiteten Begriffe, ihre erkannten Formen, maximal unzureichend sind, wenn sich das Absurde an der Grenze des Bewussten und Unbewussten aus Surrealismus und Filmhistorie speist, um sich nach faszinierenden Szenen oder gelungenen Gags aufzulösen oder wabernd noch eine Weile stehen zu bleiben, um durch die Ritzen der nächsten Szene, in eine schon länger zurückliegende Einstellung vorzudringen.
Die Verweise auf das Slasher-Genre in „Rubber“ ersetzt Quentin Dupieux in „Reality“ durch ein paar eindeutige Bezugnahmen auf das Frühwerk David Cronenbergs, nicht nur mit dem Film-Im-Film-Im-Albtraum-Im-Wahn „Waves“, der an „Scanners“ denken lässt, sondern auch durch den Beginn des Films selbst, wenn ein kleines Mädchen, Rufname „Reality“, ein blaues Videotape in den Innereien eines Wildschweins findet. „Videodrome“ lässt grüßen.
Die Dialoge sind detailreich ausgearbeitet und tragen sehr zur komischen Absurdität bei, die all diese Bruchstücke über gut 80 Minuten verbindet und trägt. Ein Dialog (am Telefon) macht schließlich auch das Kunststück möglich, „Reality“ doch pointiert zum Abschluss zu bringen, und zwar so, als hätte hier tatsächlich alles einen Sinn, einen angestammten Platz und würde einem Ziel entgegenstreben. Der totale Irrsinn – wurden doch zuvor über mehr als eine Stunde Wahrnehmungen geleugnet, Identitäten verdoppelt oder vielleicht auch gewechselt, Träume in die filmische Realität überführt und umgekehrt – selbst Wahnsinn schien eine ganz passable Zufluchtsmöglichkeit zu sein, wenn man sich in einem Traum wähnte. Die Lösung liegt vielleicht viel näher, als man denkt: Es gibt keine.
Anstatt dem unsympathisch gezeichneten Filmproduzenten in „Reality“ zu folgen, und alles erklären und rationalisieren zu wollen, mit einem kleinkarierten Hang zu Effizienz und vor allem Kausalität und Stringenz, dürfen alle Bilder einmal nebeneinander stehen, zur gleichen Zeit, am gleichen Ort – erfahrene Realität, Kinobesuche und Träume vermischen sich sowieso im Innen(er)leben des Zuschauers. Wenn der Vater der Realität (Realitys Papa) auf seiner Meinung beharrt, dass das Innere/die Innereien aller Tiere nutzlos ist/sind, revoltiert das Säugetier im Publikum, während Reality nur einen abschätzenden Blick für ihren Erzeuger übrig hat.
In Kalifornien gedreht, zeichnen die sonnigen Einstellungen ein lockeres Klima, das zuweilen neblig und verschwommen erscheint, um auch auf dieser Gestaltungsebene alle Eindeutigkeiten zu beseitigen. Der freundliche Ton der Bilder setzt Dupieuxs sechste abendfüllende Regiearbeit von anderen filmischen Versuchen zur Realität ab: Nicht das Gegrübel, sondern der Spaß am Willkürlichen steht im Vordergrund. So funktionieren oft die unterhaltsamsten Filme; auf einer direkten, intuitiven Art, mit einem Oberbau, der viel Platz für eigene Gedanken, Erkundungen und Erfahrungen lässt. Egal, ob man „Reality“ als surreale Komödie oder das Kino zersetzende Satire, als Versuch über die Absurdität von konstruierter Realität oder als urkomischen Situationsreigen wahrnimmt, es gibt weder das Verlangen, noch die Möglichkeit auszusteigen. Um danach eine weitere Runde zu drehen und sich die Welt (und alles, was drin ist) verwirbeln und zerstrudeln zu lassen. Reality ain’t always the truth.

Trailer

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