Antwort auf: Lesefrüchte

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hal-croves
אור

Registriert seit: 05.09.2012

Beiträge: 4,617

Hal CrovesEin gut aufklärerisches Stück über die Meinungsfreiheit:
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/unsere-grosse-gereiztheit-wo-liegen-die-grenzen-der-meinungsfreiheit-13877696-p2.html?printPagedArticle=true
tl;dr: Inhaltliche Auseinandersetzung ist ein Dienst an Meinungsfreiheit und pluralistischer Demokratie, idiosynkratische Abwehr von schlechten Meinungen ein Bärendienst.

„[Alasdair] MacIntyre attestiert der ‚liberalen Kultur‘ der Moderne nicht nur (wie viele andere) das Leiden an einer unheilbaren inneren Zerrissenheit, sondern vor allem auch […] eine charakteristische Lernblockade. In diesem Sinne fasst er ‚unsere‘ liberal-modernen kapitalistischen Gesellschaften als eine in die Krise geratene Tradition auf, deren destruktive Dynamik sich auch darin manifestiert, dass sie sich zu einer nicht mehr kritisierbaren Metatradition – einer ‚Tradition außerhalb der Traditionen‘ – immunisiert und dadurch gleichzeitig die Mittel der Krisenüberwindung zerstört hat […,] dass diese konstitutiv nicht dazu in der Lage seien, eine vernünftige Auseinandersetzung über ihre Gestaltung zu ermöglichen.* […] ‚Traditionen‘ sind hier nicht nur Überlieferungen im engeren Sinne, sondern der Zusammenhang geschichtlich überlieferter sozialer Praktiken und Interpretationen, der als übergreifendes Bezugssystem den Individuen erst die Möglichkeit bietet, sich und andere zu verstehen und im sozialen Raum zu lokalisieren. Entscheidend ist dabei ihr dynamischer Charakter: Sie erhalten sich weniger durch Beharrungsvermögen als durch die fortlaufende Neu- oder besser: Wiedererschaffung und Wiedererzählung ihrer selbst, ‚eine argumentativ verfahrende Wiedererzählung‘, die die Form eines konflikthaft sich fortschreibenden Narrativs annimmt.
Ein solcher Erneuerungsprozess ist nicht der Störfall, sondern der Normalfall einer ‚lebendigen‘ Tradition; die konflikthafte Auseinandersetzung über ihre eigene Identität ist konstitutiv für die Art und Weise, in der sie besteht:

Denn was eine Tradition konstituiert, ist der Konflikt unterschiedlicher Interpretationen dieser Tradition, ein Konflikt, der selbst eine Geschichte miteinander konkurrierender Interpretationen besitzt. Wenn ich z.B. Jude bin, muss ich anerkennen, dass die Tradition des Judentums teilweise durch einen fortwährenden Streit darüber, was es überhaupt heißt, Jude zu sein, konstituiert wird.

Beruhen Traditionen als Überlieferungsgeschehen also auf einem autoritativen Bezugs- und Kristallisationspunkt, so ist dieser immer nur ein Ausgangspunkt, der interpretativ und argumentativ eingeholt werden muss und sich im Verlauf der Auseinandersetzungen verändert. Traditionen sind dann so lange gelungen oder ‚lebendig‘, wie sich neue Erfahrungen in sie einspinnen lassen und sie sich mit neuen Anforderungen konfrontieren können. […] Konflikte zwischen Lebensformen beziehungsweise Traditionen lassen sich dementsprechend als Auseinandersetzungen im Modus der Rivalität auffassen. Das bedeutet, dass sich Traditionen auf die eine oder andere Weise als Konkurrenten um dieselbe Sache – die richtige Deutung der Realität und das richtige Handeln in dieser – verstehen. Traditionen sind also nicht einfach ‚wie sie sind‘, sondern verkörpern Wahrheits- beziehungsweise Geltungsansprüche, Ansprüche auf die richtige Deutung und den angemessenen praktischen Umgang mit der Welt. Die Konflikte, in die sie geraten, stellen insofern ‚die Ressourcen der miteinander konkurrierenden Traditionen auf den Prüfstand‘.**

* In diesem Zusammenhang moniert MacIntyre […] den Umstand, dass in der liberalen Kultur ‚Bereiche von entscheidender moralischer Bedeutung nicht zum Gegenstand eines angemessenen öffentlichen Diskurses oder Untersuchungsprozesses werden können.‘

** MacIntyre geht hier so weit, dass er die Vermeidung von Konflikten explizit als Degenerationssymptom deutet. So bemerkt er: ‚Es ist ein weiteres Kennzeichen einer verfallenden Tradition, dass sie ein Ensemble von epistemologischen Schutzwällen errichtet, durch die sie vermeidet, infrage gestellt zu werden oder durch die sie zumindest vermeidet, anzuerkennen, dass sie durch rivalisierende Traditionen infrage gestellt wird.'“

(Rahel Jaeggi: Kritik von Lebensformen, S. 347-350)

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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=