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Peter Wohlleben – Menschenspuren im Wald. Ein Waldführer der besonderen Art. Darmstadt: Pala 2015
Ehrlich, mir war nicht bewusst, dass Wohllebens Bücher über das Gefühlsleben der Tiere und Bäume gerade zu den ganz großen Rennern im Buchhandel zählen, ich entdeckte ihn beim Stöbern in den „Regionalia“ und hielt den Förster aus der Eifel für einen Lokalmatador. Die Bestseller kenne ich (noch) nicht und ihr Thema klingt in diesem Bändchen nur gelegentlich an. „Menschenspuren im Wald“ ist auch kein Fähnlein Fieselschweif-Handbuch, sondern eine richtig gut geschriebenen Einführung in die moderne Forstwirtschaft und zugleich eine grundlegende Kritik, die er klar und nachvollziehbar formuliert, aber auf angenehm unaufgeregte Art. Wohllebens These: Eine naturnahe Forstwirtschaft ist auch ökonomisch effizienter. Sein Ziel: Interessierten Bürgern Wissen an die Hand zu geben, um sich einzumischen, denn die Wälder befinden sich größtenteils in öffentlichem Besitz und gehören damit allen. Das Bändchen ist solide und unprätentiös gestaltet. Man kann dem sympathischen Kleinverlag Wohllebens Überraschungserfolg nur gönnen.
Rüdiger Esch: Electri-City. Elektronische Musik aus Düsseldorf 1970-1986: Berlin: Suhrkamp, 2. Aufl. 2014
Ich bin kein großer Freund solcher aus Zeitzeugengesprächen montierten Bücher, in denen sich der Autor/Herausgeber scheinbar komplett heraushält, aber Esch liefert hier gute Arbeit. Er agiert selbst seit 1987 als Musiker in DÜsseldorf und hat mit mehr als 50 Zeitzeugen gesprochen, sowohl mit den Protagonisten als auch mit Mitgliedern von u. a. OMD, Heaven 17, Ultravox und Visage,
mit Leuten von Mute Rec. und Rough Trade, mit Giorgio Moroder, Ryuchi Sakomoto und vielen anderen, um auch die „Outside View“ angemessen abzubilden, denn was in Düsseldorf seit Ende der 60er Jahre geschah, hat die Musikwelt verändert.
Beim Lesen fühlte ich mich immer wieder an eine Diskussion erinnert, die wir hier vor langer Zeit hatten. Die bewusste Abwendung von Rock- und Blues-Topoi, wie sie Ende der 60er Jahre die Musikszene dominierten, und die Suche nach einer Weiterentwicklung europäischer Musiktraditionen löste bei manchen Beobachtern auch nachvollziehbare Skepsis aus, zumal immer wieder mit historisch aufgeladener Symbolik gespielt wurde (wie durchaus auch in der britischen Musikszene). Doch es war ja gerade das radikal Andere im Sound und Design, das auch Musiker in Großbritannien und den USA nachhaltig beeindruckt und beeinflusst hat. Der Sound aus Düsseldorf strahlte zudem alles andere als identitäre, rückwärtsgewandte Dumpfheit aus. Dagegen hat sich gezeigt, dass Rock, ursprünglich der befreiende Gegenentwurf, inzwischen längst in rechten Subkulturen verwurzelt ist.
Mir gefällt gut, dass der Band streng chronologisch angelegt ist. Unpraktisch ist dagegen das Verzeichnis der Gesprächspartner (immerhin fast 4 Seiten lang), das leider keiner alphabetischen Ordnung folgt, so dass man sich beim Lesen nicht schnell in Erinnerung rufen kann, wer gerade spricht. Ansonsten interessant zu lesen und informativ.
Jens Balzer: Pop. Ein Panorama der Gegenwart, Berlin: Rowohlt 2016
Endlich: Der große Gegenentwurf zu Simon Reynolds „Retromania“, ein Buch, das – vermutlich häufig ungelesen – vielen einen Freifahrtschein zu geben schien, sich endgültig der lästigen Pop-Gegenwart zu entledigen und das musikalische Heil in der Vergangenheit zu suchen, weil: Allesschonmaldagewesen. Balzer, u.a. Autor des „Rolling Stone“, bezieht sich nicht explizit auf Reynolds und streift dessen These nur kurz, doch sein Ziel ist es, zu erkennen und zu verstehen, wie grundlegend sich Pop in den letzten 15 Jahren verändert hat, sowohl im Sound als auch in den Inszenierungen. Er gehört nicht zu denen, die daran glauben, dass man Musik nur dann wirklich „fühlen“ könne, wenn man sich bewusst dumm stellt und möglichst alles, zumal das visuelle „Drumherum“ ausblendet. Im Gegenteil, die besten Passagen des Buchs sind Überlegungen anhand von Live-Auftritten der Künstler. Ausführlich gewürdigt werden u. a. The Libertines, Amy Winehouse, Devendra Banhart, Animal Collective, Sunn O))), Burial, James Blake, Joanna Newsom, Julia Holter, Antony And The Johnsons, Grimes, FKA Twigs, Kanye West, Kendrick Lamar. Balzer formuliert seine Kriterien für guten und schlechten Pop, spürt den Veränderungen aber auch mit wachem Interesse dort nach, wo ihn Musik und Performances kalt lassen (Lana Del Rey, Lady Gaga, Helene Fischer …) oder aus unterschiedlichen Gründen anwidern (Sting, Rammstein, Freiwild ..).
Das Buch ist sehr unterhaltsam geschrieben, aber kein Smalltalk. Wer bei Begriffen wie „heteronormativ“ sofort „pseudointellektuell!“ aufschreit und kein Vergnügen an Formulierungen wie „ibizenkischer Schranztechno“ oder „Bärte des Wartens, Bärte des Werdens“ hat, der braucht Balzers Buch gar nicht erst in die Hand zu nehmen. Man muss dagegen nicht Balzers musikalische Vorlieben teilen (ich tue es jedenfalls größtenteils nicht, denn der klassische Pop-Song gilt ihm wenig), um aus seinem Streifzug durch die Pop-Gegenwart einiges an Erkenntnissen und Einsichten mitzunehmen.
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