Antwort auf: Lesefrüchte

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hal-croves
אור

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Thesen über Bedürfnis

[…]
2. Die Unterscheidung von Oberflächenbedürfnissen und Tiefenbedürfnissen ist ein gesellschaftlich entstandener Schein. Die sogenannten Oberflächenbedürfnisse spiegeln den Arbeitsprozeß wider, der die Menschen zu »Anhängseln der Maschine« macht und sie nötigt, außerhalb der Arbeit sich auf die Reproduktion der Ware Arbeitskraft zu reduzieren. Jene Bedürfnisse sind die Male eines Zustandes, der seine Opfer zur Flucht zwingt und zugleich so fest in der Gewalt hält, daß die Flucht stets in die krampfhafte Wiederholung des Zustandes ausartet, vor dem geflohen wird. An den sogenannten Oberflächenbedürfnissen ist das Schlechte nicht ihre Oberflächlichkeit, deren Begriff den selber fragwürdigen der Innerlichkeit voraussetzt. Sondern schlecht ist an diesen Bedürfnissen – die gar keine sind –, daß sie auf eine Erfüllung sich richten, die sie um eben diese Erfüllung zugleich betrügt. Die gesellschaftliche Vermittlung des Bedürfnisses – als Vermittlung durch die kapitalistische Gesellschaft – hat einen Punkt erreicht, wo das Bedürfnis in Widerspruch mit sich selbst gerät. Daran, und nicht an irgendeine vorgegebene Hierarchie von Werten und Bedürfnissen, hat die Kritik anzuknüpfen.
3. Die sogenannten Tiefenbedürfnisse sind ihrerseits zu einem weiten Maße Produkte des Versagungsprozesses und erfüllen eine ablenkende Funktion. Sie gegen die Oberfläche auszuspielen, ist schon darum bedenklich, weil unterdessen längst das Monopol die Tiefe ebenso in Besitz genommen hat wie die Oberfläche. Die von Toscanini dirigierte Beethovensymphonie ist nicht besser als der nächste Unterhaltungsfilm, und jeder mit Bette Davis ist schon die Synthese. Gerade dieser Synthese gebührt das äußerste Mißtrauen.
4. Die Theorie des Bedürfnisses sieht sich erheblichen Schwierigkeiten gegenüber. Auf der einen Seite vertritt sie den gesellschaftlichen Charakter des Bedürfnisses und darum die Befriedigung der Bedürfnisse in ihrer unmittelbarsten, konkretesten Form. Sie kann sich keine Unterscheidung von gutem und schlechtem, echtem und gemachtem, richtigem und falschem Bedürfnis a priori vorgeben. Auf der anderen Seite muß sie erkennen, daß die bestehenden Bedürfnisse selber in ihrer gegenwärtigen Gestalt das Produkt der Klassengesellschaft sind. Menschlichkeit und Repressionsfolge wäre an keinem Bedürfnis säuberlich zu trennen. Die Gefahr einer Einwanderung der Herrschaft in die Menschen durch deren monopolisierte Bedürfnisse ist nicht ein Ketzerglaube, der durch Bannsprüche zu exorzieren wäre, sondern eine reale Tendenz des späten Kapitalismus. Sie bezieht sich nicht auf die Möglichkeit der Barbarei nach der Revolution, sondern auf die Verhinderung der Revolution durch die totale Gesellschaft. Dieser Gefahr und allen Widersprüchen im Bedürfnis muß die dialektische Theorie standhalten. Sie vermag das nur, indem sie jede Frage des Bedürfnisses in ihrem konkreten Zusammenhang mit dem Ganzen des gesellschaftlichen Prozesses erkennt, anstatt das Bedürfnis im allgemeinen sei’s zu sanktionieren, sei’s zu reglementieren oder gar als Erbe des Schlechten zu unterdrücken. Heute, unterm Monopol, ist entscheidend, wie die einzelnen Bedürfnisse zu dessen Fortbestand sich verhalten. Die Entfaltung dieses Verhältnisses ist ein wesentliches theoretisches Anliegen.
[…]

(Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, Band 8: Soziologische Schriften I: Thesen über Bedürfnis, S. 392f.)

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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=