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Anonym
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Pheebee Das kommt bei mir ganz anders an. Der Text ist erstmal gar nicht traurig, sondern die Sängerin (Bess) erfreut sich am Sommer, in dem sie springende Fische beobachtet, während die Baumwolle reif ist. Da kommt auch was Beschützendes zu Vorschein, schließlich ist es ein Wiegenlied. Erst die Musik macht im Grundton etwas trauriges daraus. Man kann natürlich in der Interpretation das ganze Ding dramatisieren, ändert aber für mich von der Grundidee, wie das Lied mal gedacht war, nur wenig.
Da möchte ich widersprechen. Ich glaube nicht, dass man zwischen „erstmal Text“ und „dann erst die Musik“ unterscheiden sollte. Denn wenn wir das Lied hören, besteht es von Anfang an simultan aus beidem, aus Text und Melodie. Und die Melodie stellt von Anfang an in Frage, was der Text (zunächst tatsächlich in einem ganz schlichten, ein Idyll hintupfenden Ton) beschreibt: Klingt es wirklich so, wenn die Fischlein springen? Dem ganzen Lied ist eine gezielte Reibung eingeschrieben, so ein „Hier stimmt doch was nicht“-Gefühl: Ist diese Sommerszene eine Zustands-Aufnahme oder ein Wunschtraum-Gebilde? Ein Besingen des gegenwärtigen Friedens oder die Beschwörung einer besseren Zukunft, die hinausführt aus der täglichen Bedrückung?
Beispiel: Die Zeile „The living is easy“ – genau die Silbe „ea-“ liegt voll auf dem Grundton der Molltonart, und bei der Silbe “-sy“ erreicht die Melodie ihren tiefsten Grund, sie sackt förmlich ab, an keiner Stelle geht der Song tiefer runter als hier. Ausgerechnet da, wo der Text sagt, das Leben sei leicht, ist die Melodie erdenschwer. Der Zuruf an das Kind, „hush, little baby“, öffnet später dann für einen Moment den Horizont ins Dur, es folgt die Beschwörung „don’t you cry“ – und genau beim „cry“ sind wir wieder voll auf dem Grundton der Molltonart. Großartig gemacht! Die Melodie rückt den Text sozusagen in den Sehnsuchtsmodus.
Im übrigen besingt ja bereits der Text durchaus nicht nur das schöne Wetter: „your daddy’s rich“, heißt es da, plötzlich kippt die Fische/Baumwolle-Szenerie ins Ökonomische – das ist für sich genommen schon eine Irritation, das Moll aber legt nahe, das der ein sorgloses Leben ermöglichende Reichtum des Vaters nur imaginiert ist. Und vergessen wir nicht die zweite Strophe: „Eines Morgens wirst du dich erheben, um zu singen, deine Flügel ausbreiten und zum Himmel aufsteigen“, hinausfliegen über das Elend, in dem du steckst, das ist eine klassische Erlösungshoffnung, da sind wir jetzt schon fast bei Sam Cooke und A change is gonna come: “Ich wurde geboren unten am Fluss in einem kleinen Zelt“, inmitten der Armut, im randständigsten Milieu, „aber ich weiß“ – ich glaube, ich wünsche, ich ersehne – „ein Wandel wird kommen.“
Wenn wir dann noch den Kontext mitbedenken, in dem Summertime ursprünglich stand, wird alles noch deutlicher: Porgy & Bess handelt ja von dem – letztlich ziemlich vergeblichen – Versuch, aufzubrechen in ein besseres Leben, hinaus aus dem Milieu der rassistisch Ausgegrenzten, der Bettler, der perspektivlosen Kleinkriminellen, der Marginalisierten. Insofern nimmt „Summertime“ in einer Nussschale alles vorweg, worum es in der Oper geht. Danke, soulpope, in diesem Zusammenhang für den Hinweis auf die Text-Schreibweise „yo daddy’s rich an yo ma is good lookin“ – da treten Dia- und Soziolekt deutlich hervor, es wird vollends klar, dass diese Sommer-Phantasie in einem prekären schwarzen Milieu angesiedelt ist, in einer Welt, die ziemlich abgeschnitten ist von ökonomischen Chancen und Bildungsperspektiven.
Wahrhaftig ein ganz großes Lied. Und dass es so bescheiden daherkommt, als Wiegenlied, als beruhigende Nichtigkeit für einen Säugling, macht alles noch genialer.
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