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Dickes Interview mit Wolfgang Niedecken heute in der Südwestpresse.
Zornig wäre allerdings nicht das erste Adjektiv, das mir zu Lebenslänglich einfiele.
„Ich kann noch sehr zornig sein“
40 Jahre BAP: Mit „Lebenslänglich“ hat Wolfgang Niedecken zum Bandjubiläum der Kölner Dialektrock-Institution ein neues Album vorgelegt und findet wie so oft den adäquaten Klartext zur Großwetterlage.
SWP: Ihr neues Album „Lebenslänglich“ beginnt mit dem Fließgeräusch des Rheins. Sehr symbolträchtig.
WOLFGANG NIEDECKEN: Ich kann in unserem Haus sogar mit Rhein-Blick arbeiten. Das war für mich beim Kauf des Hauses neben dem Garten für die Kinder sehr wichtig. In meinen Texten ist in den vergangenen Jahrzehnten der Rhein sicherlich auch deutlich häufiger vorgekommen als der Kölner Dom.
SWP: Apropos Kölner Dom. Wie haben Sie auf die Vorgänge in der Silvesternacht in Köln reagiert?
NIEDECKEN: Ich war fassungslos. Zunächst haben sich die Medien erst einmal gegenseitig interviewt und Wasser für die Mühlen der ewig Gestrigen geliefert. Am meisten bin ich aber darüber erschüttert, wie schnell man einen Keil in unsere Gesellschaft treiben kann.
SWP: Und die Demokratie ganz unterschiedlich auslegen kann?
NIEDECKEN: Demokratie funktioniert nur, wenn man aufgeklärt ist und sich informieren will. Das Gefährliche an der aktuellen Situation ist, das nach einfachen Lösungen gesucht wird. Die Vereinfacher haben deshalb Hochkonjunktur und zwar überall. Dabei ist doch klar, dass man Flüchtlinge aufnehmen muss. Ansonsten können wir uns all die Krippenspiele und St. Martins-Umzüge sparen.
SWP: Sie singen über die „Vision Vun Europa“. Die scheint ziemlich ausgeträumt zu sein.
NIEDECKEN: Europa ist hochgradig gefährdet, da sich gerade die Länder, die bisher auf die Solidarität der anderen zählen konnten, die Zäune hochziehen oder keine Flüchtlinge aufnehmen wollen. Die haben von der europäischen Idee nicht viel begriffen.
SWP: Man könnte also verzweifeln.
NIEDECKEN: Das Album ist aber durchaus humorvoll, obwohl ich auch meine große Ratlosigkeit zugeben muss. Was gerade in der Weltpolitik vorgeht, ist unfassbar kompliziert und bisweilen absurd. Ich habe versucht, das im Text von „Absurdistan“ zu beschreiben.
SWP: Die singenden Mahner sind also noch immer gefragt?
NIEDECKEN: Wir haben für ein Konzert zum Album-Release auch „Kristallnaach“ geprobt. Am Morgen davor kam im Radio die Nachricht vom Hooligan-Lynchmob, der durch Leipzig-Connewitz gewütet war. Ich musste leider feststellen, dass mein 1981 geschriebener Text von vorne bis hinten noch immer brandaktuell ist.
SWP: Man hat beim Hören des Albums das Gefühl, dass Sie der Romantik und Melancholie ihren Raum geben, Ihnen jegliche Altersmilde allerdings abgeht.
NIEDECKEN: Ich kann in einem Song wie „Absurdistan“ noch sehr zornig und wütend sein. Aber meine Kinder passen schon auf, dass ich nicht wie ein wild gewordener Berufsjugendlicher rüberkomme.
SWP: Rein musikalisch betrachtet, klingen Sie auf „Lebenslänglich“ noch mehr wie ein Amerikaner in Köln.
NIEDECKEN: Dass ich nicht von deutscher Volksmusik beeinflusst wurde, sollte ja hinlänglich bekannt sein. Aber ich habe natürlich – von all meinen musikalischen Vorbildern abgesehen – auch hervorragende Musiker in meiner Band, die das Instrumentarium des Americana bestens beherrschen.
SWP: Im Frühjahr gehen Sie wieder auf Tournee.
NIEDECKEN: Genau. Die Jubiläumstour zum 40-jährigen Bestehen von BAP trägt den aussagekräftigen Untertitel „Die beliebtesten Lieder 1976-2016“. Wir dachten, man kann bei einem solchen Jubiläum schon mal klar ansagen, was auf das Publikum zukommt, ohne gleich zur Bierzelt-Band zu werden.
SWP: Eine Hit-Kapelle waren BAP ja nie.
NIEDECKEN: Wir sind eher eine Album-Band mit Songs, die richtig zünden. Die werden wir auf der Tour natürlich auch spielen. Außerdem lassen wir unsere Fans darüber abstimmen, welche neuen Stücke wir ins Programm nehmen. Wir werden ganz bewusst auch bestuhlt spielen, da unsere Konzerte ja doch ganz schön lang sind.
SWP: Sie spielen wieder drei Stunden?
NIEDECKEN: Drei Stunden. Ich kann nicht anders.
SWP: Das gilt auch für den Kölner Dialekt. Hier können und wollen Sie auch nicht anders.
NIEDECKEN: Aber wehe, wenn ich Hochdeutsch singe wie in einer Strophe von „Absurdistan“. Dann ist der Protest der Fans groß, dabei ist die Wahl der Sprache ja sehr wohl überlegt. Selbst Kölner, die Dialekt sprechen, wechseln ins Hochdeutsche, wenn es richtig ernst wird. Wie tief die Muttersprache in mir eingelagert ist, habe ich nach meinem Schlaganfall erfahren. Ich habe noch lange nach hochdeutschen Begriffen gesucht, da sprach ich bereits bestes Kölsch.
SWP: Spüren Sie heute noch irgendwelche Nachwirkungen des Schlaganfalls?
NIEDECKEN: Eigentlich nicht. Ich hatte riesiges Glück, aber auch immer daran geglaubt, dass ich wieder der Alte werde. Dä Herjott meint et joot met mir!
SWP: Ein wenig überraschend war die Nachricht, dass Sie bei der nächsten Staffel der Musiksendung „Sing meinen Song“ am Start sein werden.
NIEDECKEN: Ich wurde bereits beim ersten Mal angefragt und konnte mir das einfach nicht vorstellen. Früher lief Live-Musik im Fernsehen ja nur in den Pinkelpausen. Aber ich habe mir ein paar Folgen angeschaut und bei der erneuten Anfrage gesagt, man könne mich ganz am Schluss fragen, denn Schlager singen würde ich auf keinen Fall. Jetzt freue ich mich sehr darauf.
SWP: Obwohl Gastgeber Xavier Naidoo inzwischen höchst umstritten ist?
NIEDECKEN: Ich bin mal gespannt, wie oft er noch erklären muss, dass er kein Faschist und nicht homophob ist. Vielleicht neigt er ein wenig zu Verschwörungstheorien, aber das ist ja nicht strafbar. In erster Linie ist er ein sehr angenehmer Kollege, der mit Seele singt und unglaublich spontan schreiben kann.
SWP: Ganz im Gegensatz zu Ihnen?
NIEDECKEN: Ich kämme meine Texte aus, überarbeite, einmal, zweimal . . . Ich arbeite deshalb auch immer noch mit Papier, Bleistift und Radiergummi.
SWP: Gibt es Texte, die sich inhaltlich als großes Missverständnis entpuppt haben?
NIEDECKEN: „Verdamp lang her“ ist so ein Song. Kaum jemand weiß, dass dieser Text ein Zwiegespräch mit meinem verstorbenen Vater ist.
SWP: Sie beziehen in Ihren neuen Texten emotional wie auch politisch klar Stellung. Ist das in diesen Zeiten wichtiger denn je?
NIEDECKEN: Es braucht aufmerksame Künstler, die sich nicht drücken, wenn sie etwas zu sagen haben, sich aber auch nicht vor jeden Karren spannen lassen. Wir müssen aber außerdem gut unterhalten und dafür sorgen, dass die Menschen nicht verhärten – gerade und besonders in dieser aktuellen Krise.
http://www.swp.de/ulm/nachrichten/kultur/Ich-kann-noch-sehr-zornig-sein;art4308,3653149
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I'm pretty good with the past. It's the present I can't understand.