Re: Jazz in den 80er Jahren

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soulpope
"Ever Since The World Ended, I Don`t Get Out As Much"

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gypsy tail wind
Provokativ als These formuliert (keine Ahnung, ob ich die These überhaupt selbst stützen mag, ging mir einfach durch den Kopf beim Lesen und Nachdenken die letzten Tage): Der US „Jazz“ hat die Verbindung zu seinen eigenen Wurzeln zu weiten Teilen verloren (vergessen/verdrängt/gekappt), wie der Jazz aus anderen Gegenden es schon seit langem, aber spätestens seit der „Emanzipation“ vom US-Jazz in den Sechzigern, tut, werden immer wieder neue Andockpunkte geschaffen, von denen aus der Versuch, eine neue Traditionslinie zu etablieren, unternommen wird … dieser Traditionslinie fehlt quasi die Verwurzelung im „Ganzen“, was zur Fragmentierung führte, wie sie schon in den Siebzigern (aber damals noch unter anderen Vorzeichen) einsetzte ….

… diese Traditionslinie, die Hauptader, hat sich vom Jazz weg verschoben … der Name Ray Charles fiel gerade, James Brown wäre noch einer, irgendwo da verschiebt sich die afro-amerikanische Musik, während im Jazz mit Miles und der Avantgarde in der zweiten Hälfte der Sechziger ein letztes grosses und einigermassen gemeinsames kreatives Aufbäumen erfolgt, man aber bereits als Opener der Dead auftreten muss) … die Hauptlinie geht aber anderswo hin, Nina Simone oder Aretha Franklin, Otis Redding und Stax, die Hits von Motown aber auch Marvin Gaye oder Curtis Mayfield … und via Gil Scott-Heron oder die Last Poets gibt es den nächsten Shift, Public Enemy samplen James Brown und das ganze Ding läuft weiter, aber – fast – ohne den Jazz (fast, weil es Versuche gibt, von Steve Coleman oder Greg Osby etwa, von Robert Glasper in jüngeren Tagen, den Spagat zwischen Fats Waller und der Hip Hop-Kultur zu schaffen)

und jetzt zerreist mich in der Luft, laut denken ist gefährlich :-)

Ich schätze Menschen welche deswegen gefährlich leben ;-) ….

Viele interessante Ansätze welche Du hier berührst und beleuchtest ….

Nur ein paar Gedankensplitter (ohne hier oder sonstwo bereits von dritter Seite Gesagtes als neue Erkenntnisse preisen zu wollen) …., die Tradition und deren Aufrechterhaltung aka Fortführung im Jazz gelang über einige Dekaden hinweg durch scheinbar wie selbst entstehende Innovation, welche schrittweise gleichzeitig auch in eine Art „Lösung“ von der jeweils vorherigen Form/Struktur mündete und dann schließlich auf die Weggabelung zwischen der (sagen wir mal) formbefreiten Idee des Free Jazz und dem rettenden (?) Amalgam mit der „weissen“ Rockmusik auflief …. interessanterweise hatten beide Richtungsentscheidungen – obwohl diese unter dem vorgannten Parameter als Innovationen zu verstehen wären – offenbar bei so manchem Musiker einen zumindes teilweise empfundenen Traditionsverlust zur Folge …. und es war nicht erst der selbsternannte „Hüter der Flamme“ Wynton M. in den 80ern welcher die Notwendigkeit nach Historienschein suggeriert bekam, mir noch immer erinnerlich wie Arthur Blythe nach zwei superben Alben für Adelphi und India Navigation 1977 zeitgleich auf Columbia „Lennox Avenue Breakdown“ und (sic) „In The Tradition“ veröffentlichte …. der Kontrast war schon durch die Titelgebung und auch Covergestaltung vorprogrammiert …. während „Lennox Avenue Breakdown“ (zumindest für mich) trotz freier Form die Tradition atmet ist „In The Tradition“ ein auf Vinyl geritztes Eingeständniss, dass mit einem blossen Rückblick Nichts über/für die Zukunft zu sagen ist und es ist bezeichnend, daß die vier beteiligten Klassemusiker hier nicht „genial scheitern“, sondern sich fast wehrlos der (Zwangs)Form aussetzen ….

Möglicherweise war aber, wie Du es als Aspekt anbietest, „die Tradition“ der schwarzen Musik ab den späten 60ern ohnehin bereits (ohne daß es ihnen bewusst war) in den Händen der Soulmusiker, welche nach Aberrationen in diverse Richtung wieder im Hip-Hop auf die Hauptader stiessen ….

Soweit meine „5 cent worth“ aus den Fängen des „Bergwerkes“ …..

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  "Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit" (K. Valentin)