Re: Jazz in den 80er Jahren

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vorgarten

Registriert seit: 07.10.2007

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mmhh… um das zu zerreißen, müsste ich jetzt viel mehr informationen haben, und ich glaube, ihr lest alle viel mehr als ich über sowas. ich glaube einfach nur ganz generell nicht an geschlossene erzählungen, also auch nicht an verwurzelung, traditionslinien und fortschritt. man kann da rein empirisch sicherlich eine bewegung beschreiben, die dann ungefähr zu deiner theorie passt, aber dafür müsste man vieles rechts und links ignorieren (wie du ja selbst sagst) – es kommt eben darauf an, wo man den schwerpunkt legen möchte.

ich glaube ganz stark an kontexte. ich glaube, dass viele schwarze jungs in den 50ern zum tenorsaxophon gegriffen haben, weil es die drei nachbarjungs auch gemacht haben, weil tenosaxofone im radio zu hören waren, weil der vater pianist war und gesagt hat, ja, junge, mach mal, oder weil einer in der nachbarschaftsgang nicht ausgeschlossen werden wollte und deshalb halt trompete gelernt hat, weil die unter den peers gerade fehlte. niemand hat damals gedacht, dass er auf eine schule geht, von den alten lernt, traditionen aufrecht erhält und einen wichtigen kulturbeitrag leistet. sowas kam eher mit der fortschreitenden institutionalisierung, die ja ein eigenes system ist und eine eigene agenda hat (ein lincoln-center-jazzprogramm mit marsalis-ideologie ist ja nicht einfach nur geschmackssache, sondern reagiert auf nobilitierungs-wünsche des afroamerikanischen bildungsbürgertums, die etwas festhalten, wo sie problemlos den eigenen input zur us-kultur belegen können, dafür kann man dann auch gut drittmittel locker machen – genausogut hätte man daraus ein selma-gedächtnisprogramm machen können und hätte dann eher freejazz gefördert, aber das ist auch eine eher schambehaftete phase der afroamerikanischen geschichte, daran möchte man wahrscheinlich weniger gern erinnert werden als an duke ellington).

jemand wie steve coleman, der dann eher zu den „alten“ geht als auf ein konservatorium, war vielleicht eine neue art von traditionalismus, der aber in dem fall auch hieß, kontexte nicht ignorieren zu müssen, die an einem lincoln center keinen platz haben (george clinton, prince und grandmaster flash).

von benny bailey habe ich mal gelesen, dass er bis in die 70er überhaupt keinen vocal jazz kannte – also auch nicht brownie & helen oder billie holiday. wie kommt es, dass ein solcher insider so komplett von traditionen und verwurzelungen getrennt spielen konnte?

dagegen glaube ich nicht, dass man us-amerikanischen jazz ab den 70ern mit europäischen gleichsetzen könnte. ich glaube nur daran, dass es viel mehr austausch gab (genauso usa und brasilien in den 50ern), also mehr kontexte. ein junger afroamerikanischer saxophonist in den usa redet immer noch anders über das, was er macht, als einer in europa, was aber mit tausend dingen zu tun hat und nicht nur mit „kultur“ und „tradition“.

ich glaube außerdem, dass es andere traditionslinien gibt. rein generational funktioniert ein austausch von jungen musikern und 80er-loftszene noch sehr gut (threadgill, mitchell, fred anderson über lange zeit, william parker), aber vielleicht lassen sich heute bei sun ra und alice coltrane eher andocken als bei ellington (jedenfalls in der afroamerikanischen szene).

aber das ist jetzt sehr ungeordnet und vielleicht auch am thema vorbei – ich habe mehrere anspielungen (iverson, bee-hive, org) nicht verstanden bzw. einordnen können.

was die 80er angeht, ist meine theorie ja, dass es da hauptsächlich um gratifikationseffekte für ein spezifisches muckertum ging – d.h., wer so richtig toll gitarre spielen können wollte, musste halt am ende jazz(rock) dudeln. das funktioniert heute nicht mehr – heute geht man eher wieder aus esoterischen gründen als musiker zum jazz, vielleicht kommen bald auch neue wertschätzungen für das handgemachte in den digitalskeptischen szenen zum tragen. aber dann landet man wahrscheinlich wieder bei marsalis (ohne kulturdiskussion).

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