Re: Jazz in den 80er Jahren

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gypsy-tail-wind
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Wie ist das eigentlicht mit der Zersplitterung, die in den Siebzigern einsetzt, und den Versuchen, ausserhalb der USA neue Anknüpfungspunkte zu schaffen, die eine eigene Jazztradition „ab ovo“ sozusagen schaffen wollen … was in Europa und anderswo seit den frühen Sechzigern passiert: man kennt die Tradition nicht, man setzt dockt da an, wo man etwas kennt – meist bei recht neuen Dingen, so ist z.B. Komeda 1962 für „Knife“ direkt bei Coltrane 1962 dran, offensichtlich hatte er wenige Monate später bereits neue Coltrane-Aufnahmen hören können … aber im Gegensatz zu Coltrane liegt ihm eben nicht die ganze Tradition vor, die bis zum Blues, zum Spiritual zurückreicht, die ganzen Verästelungen und all das, was sich seit Morton, Armstrong, Ellington, Waller etc. entwickelt hat (manches davon ist ja wohl auch für uns verloren, weil nie – bzw. nur als Zeugnis, als Text – dokumentiert) … die Frage, weil die Situation in den Siebzigern unübersichtlich wird, in den Achtzigern mit dem Wynton-Museum ein riesiger Backlash eintritt, der zwar die Traditionslinien nicht kappt, aber denen, die noch Jazz machen, die Bedeutungshoheit nimmt (was wiederum auch okay ist, die Wurzeln, der Blues, das war ja auch ein Minoritätending, marginalisiert, nix für die US-amerikanische Entertainment-Industrie und die Exploitation … frei nach Amiri Baraka, dem ich da allerdings gerne folgen mag) … die Frage also, endlich: Ist möglicherweise die Situation des „kreativen“ US-Jazz seit irgendwann damals (wohl eher 80er oder 90er als 70er) eine vergleichbare wie die Situation in Europa? Das tiefe Wissen über die Tradition ist ja längst brüchig geworden, selbst da, wo es als Pose gegen aussen aufrechterhalten wird (mag unfair sein, Ethan Iverson jetzt nochmal eins überzuziehen, ich mag manches, was er schreibt und v.a. manche seiner Interviews ja sehr gerne, aber der Review der Bee Hive-Box von Mosaic war wirklich unter aller Sau) …

Provokativ als These formuliert (keine Ahnung, ob ich die These überhaupt selbst stützen mag, ging mir einfach durch den Kopf beim Lesen und Nachdenken die letzten Tage): Der US „Jazz“ hat die Verbindung zu seinen eigenen Wurzeln zu weiten Teilen verloren (vergessen/verdrängt/gekappt), wie der Jazz aus anderen Gegenden es schon seit langem, aber spätestens seit der „Emanzipation“ vom US-Jazz in den Sechzigern, tut, werden immer wieder neue Andockpunkte geschaffen, von denen aus der Versuch, eine neue Traditionslinie zu etablieren, unternommen wird … dieser Traditionslinie fehlt quasi die Verwurzelung im „Ganzen“, was zur Fragmentierung führte, wie sie schon in den Siebzigern (aber damals noch unter anderen Vorzeichen) einsetzte.

Daraus ergibt sich:

1) heute gibt es zwischen weiten Teilen des US- und des ausseramerikanischen Jazz keine grundlegenden Unterschiede, es sei denn, ein afro-amerikanischer Musiker knüpft gezielt – über die Musik, Polemik reicht nicht und Museumsretortenmusik disqualifiziert sich ja selbst – an die „grosse Tradition“ an … wer tut sowas heute noch? David Murray wohl, Oliver Lake … bei jüngeren Musikern mag das zugegeben schwierig zu erkennen oder zu beurteilen sein … ich bin mir auch unsicher, wo in dieser ganzen Sache ein Steve Coleman oder ein Steve Lehman anzusiedeln wäre, wo etwa ein Vijay Iyer … und ich will aber auch betonen, dass ich in dieser „Lücke“ kein grundlegendes Problem für den Wert oder die Qualität der Musik sehe, es handelt sich dabei ja auch um eine Öffnung in alle Richtungen (die Kenny Clarke/Francy Boland Big Band lieferte einst als Plattentitel den zugehörigen Slogan: „Jazz is universal“), gemessen werden muss die Musik an sich selbst, an den gewählten Anknüpfungspunkten … und das führt halt – wieder die Zersplitterung – dazu, dass es vieles gibt, wo man keinen Zugang findet, ohne dass man es „schlecht“ nennen mag, es geht dann eher in Richtung wie „sagt mir nichts“, „packt mich nicht“, „lässt mich kalt“ – das sind keine Defizite weder beim Künstler noch beim Publikum, das ist eine blosse Feststellung)

2) die Traditionslinie der afro-amerikanischen Musik (die natürlich nicht ganz so eingleisig ist, wie meine Rede oben suggerrieren mag – es gab ja z.B. während/neben/nach dem Bebop den Rhythm & Blues, die Einflüsse von T-Bone Walker auf die Jazzgitarre z.B. sind gross, die Anzahl Grenzgänger von Louis Jordan oder Al Sears über Illinois Jacquet und Wynonie Harris bis zu Ray Charles ist Legion) … diese Traditionslinie, die Hauptader, hat sich vom Jazz weg verschoben … der Name Ray Charles fiel gerade, James Brown wäre noch einer, irgendwo da verschiebt sich die afro-amerikanische Musik, während im Jazz mit Miles und der Avantgarde in der zweiten Hälfte der Sechziger ein letztes grosses und einigermassen gemeinsames kreatives Aufbäumen erfolgt, man aber bereits als Opener der Dead auftreten muss) … die Hauptlinie geht aber anderswo hin, Nina Simone oder Aretha Franklin, Otis Redding und Stax, die Hits von Motown aber auch Marvin Gaye oder Curtis Mayfield … und via Gil Scott-Heron oder die Last Poets gibt es den nächsten Shift, Public Enemy samplen James Brown und das ganze Ding läuft weiter, aber – fast – ohne den Jazz (fast, weil es Versuche gibt, von Steve Coleman oder Greg Osby etwa, von Robert Glasper in jüngeren Tagen, den Spagat zwischen Fats Waller und der Hip Hop-Kultur zu schaffen)

ach so: und klar, dabei verschiebt sich auch die Verachtung der amerikanischen Majoritätsgesellschaft: aus n*gger music wurde thug music … (wie wäre das, wenn ein afro-amerikanischer Fünzigjähriger drei weisse Teenager niederschiesst, weil sie zu laut C&W hören an der Tanke?) – same same but different.

und jetzt zerreist mich in der Luft, laut denken ist gefährlich :-)

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