Re: Coleman Hawkins – The Father of the Tenor Saxophone (1904-1969)

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Im September nahm Hawkins zum ersten Mal seit seiner Rückkehr in die USA auf. Die erste Session brachte ihn gleich mit zwei der Mitstreiter um die Krone zusammen – und Hawkins verteidigt diese bravourös. Lionel Hampton hatte 1937 damit begonnen, für Victor eine Reihe von Jam-Sessions mit einer Menge grossartiger Musiker der Swing aufzunehmen, am 11. September 1939 brachte er neben Hawkins also Chu Berry, Ben Webster, Benny Carter, Dizzy Gillespie, sowie eine tolle Rhythmusgruppe um Clyde Hart, Charlie Christian, Milt Hinton und Cozy Cole ins Studio. In Carters „When Lights Are Low“ spielt Hawkins mit schneidender Schärfe und einem unglaublichen Drive, schlängelt sich durch die Anspruchsvollen Changes mit einer umwerfenden Nonchalance – er wirkt, wie Loren Schoenberg im Booklet der obigen Hampton-Box schreibt, „like a lion beating his chest“ (leider hielt man das Stück kurz, Master wie Alternate Take sind nur gearde 2:16 bzw. 2:06 lang). „One Sweet Letter from You“ erlaubt ihm dann, seine reifen Balladenkünste zu demonstrieren – und man beachte Charlie Christians Begleitung während Hamptons entspanntem Gesangs-Chorus! Die Rhythmusgruppe ist überhaupt unheimlich tight und spielt mit einem Flow, der 1939 noch keinesfalls selbstverständlich war.

Die beiden folgenden Stücke kommen dann ohne Hawkins aus – in „Hot Mallets“ hören wir das erste Solo von Dizzy Gillespie, der mit einem Zitat aus „Cheek to Cheek“ einsteigt: „Heaven, I’m in heaven!“ Auch Benny Carter – in der Bridge – ist in Form (er hat die Arrangements für die Session beigesteuert). Dann folgt Chu Berrys Solo – sehr relaxed und fliessend. Hintons Bass trägt derweil mit einem ansteigenden Riff die ganze Nummer, Cole glänzt wie in der ganzen Session mit einem stabilen und swingenden Beat und tollen Fills – er wusste genau, wie man ein Stück aufbaut. „Early Session Hop“ ist dann die Nummer von Ben Webster – doch Cole stiehlt ihm beinah die Show. Danach sind auch Carter und Hampton zu hören (letzterer soliert sowieso in jedem Stück mal).

Eine weitere grossartige Swing-Session – und ein Beweis, dass Hawkins noch immer der König war. Berry ist in seinem Solo zwar entspannter, als Hawkins es in dieser ersten Session nach seiner Rückkehr wohl sein konnte, aber seine Einfälle wirken noch heute überraschend und frisch, sein Solo in „When Lights Are Low“ nimmt einige sehr unerwartete Wendungen.

Die nächste Session, exakt einen Monat später, öffnet nicht so, dass man allzu grosse Erwartungen hätte – und dennoch sollte sie für immer in die Annalen des Jazz eingehen. Hawkins kam mit einer mittelgrossen Band und ein paar ausgearbeiteten Arrangements ins Studio. Mit dabei war der Trompeter Joe Guy sowie einige wenig bekannte Leute. Doch ausgearbeitet oder nicht, „Meet Doctor Foo“ und „Fine Dinner“ (Slang für Marihuana bzw. für ein hübsches Mädchen) bieten wenig. Eine rompende Band, rumpelndes Tenorsax und ein paar von Joe Guys scharfen (und verstimmten) Trompetentönen. Pianist Gene Rodgers (der „Fine Dinner“ arrangiert hat) spielt ein perlendes Solo, danach einen kurzen Exchange mit Hawkins … die Leute in der Band sind wirklich nicht besonders gut, gerade beim Drummer (Art Herbert) merkt man das im Vergleich zur Vorgänger-Session stark.

Doch dann wechselt das Tempo – und Loren Schoenberg, in den Notes zur Mosaic-Box, stellt zu Recht ein paar Überlegungen an, wie Hawkins‘ Spiel seinen Charakter mit dem Tempo änderte (etwas, was mit Ben Webster in den nächsten Monaten bei Ellington auch geschehen sollte und sich bei ihm mit zunehmendem Alter noch verstärkte). Im Gegensatz zu seinen wenigen echten peers (Armstrong, Young, Goodman, Hines, Eldridge, Tatum, Carter …) klingt Hawkins eben doch merklich anders, wenn er schnell bzw. wenn er eine Ballade spielt. Die anderen klingen immer etwa gleich, jedenfalls nicht so radikal unterschiedlich wie Hawkins.

Die erste Ballade hat Hazel Scott arrangiert, „She’s Funny That Way“. Thelma Carpenter singt und macht die Lady Day-Imitatorin, durchaus mit Charme. Ein hübsches Arrangement mit einem groben Fehler gegen Ende der Bridge (der schmerzt mich gerade wirklich ein wenig – Schoenberg erklärt ihn so, dass aus dem Moll-Akkord ein V/V7-Akkord gemacht wurde … keine Ahnung, warum das keinen störte, auch die verstimmte Trompete im ersten Stück nicht). Anyway, Hawkins spielt ein etwas gedrängtes Solo aber sein Ton ist wunderbar, die Läufe perlen nur so aus einem Saxophon – und er spielt unglaublich relaxed.

Dann folgt jedoch zum Schluss die grosse Überraschung, ein Meisterwerk, das einen noch heute staunen, ja aus dem Staunen fast nicht mehr herauskommen lässt: „Body and Soul“. Das harmonisch sehr anspruchsvolle Stück (für Jazz-Verhältnisse wenigstens) mit einer ganze Reihe aussergewöhnlicher Modulationen besonders in der Bridge, ist die perfekte Grundlage für Hawkins. Das Tempo ist wie oben schon erwähnt ebenfalls perfekt, nicht zu schnell aber auch nicht zu langsam, eine Art walking ballad (ein „Genre“, das Horace Silver später auch perfektionieren sollte). Hawkins spielt nur gerade ein paar Töne vom Thema und stürzt sich danach ein Solo, das in seiner Waghalsigkeit den wildesten Exkursionen eines Lester Young in nichts nachsteht. Er schöpft aus den vollen, kostet die Akkorde bis aufs letzte aus, aber zugleich sind seine Linien von einer melodiösen Sanglichkeit.

Als nächstes nahm Hawkins am 14. Dezember eine Jam-Session mit den Varsity Seven auf – obwohl hochkarätig besetzt, taugt das Ergebnis nicht sonderlich viel. Benny Carter (t, as), Danny Polo (cl), Hawkins (ts), Joe Sullivan (p), Ulysses Livingston (g), Artie Shapiro (b), George Wettling (d) und Jeanne Burns (voc) liefern einen seltsamen Mix aus Dixieland und Swing ab. Die Soli sind kurz, aber vor allem passen die Beats von Wettling nicht so ganz und der Gesang ist unbemerkenswert.

Am 21. Dezember war Hawkins bereits wieder im Studio – erneut mit Lionel Hampton. Auch Benny Carter war wieder dabei, dazu Edmond Hall (cl), Sullivan (p), Freddie Green (g), Artie Bernstein (b) und Zutty Singleton (d). Diesmal spielt Hawkins äusserst entspannt auf und liefert mit „Dinah“ gleich sein nächstes Meisterwerk ab. Nach Hamptons Intro (er zitiert „Buddy Bolden’s Blues“) öffnet Benny Carter an der Trompete, improvisiert direkt und ist besonders in der Bridge bemerkenswert. Hawkins übernimmt, während Joe Sullivan direkt zum Auftakt einen dissonanten Ton einstreut. In „My Buddy“ (Carter und Hawkins hatten das Stück schon in Holland zusammen aufgenommen) schmückt der urbane Hawkins die bluesigen Linine von Edmond Hall aus – und geht direkt mit einem gehaltenen Ton in sein eigenes Solo über. Auch hier reagiert er souverän und spontan auf Sullivans eingestreute hohe Töne.

Die letzte Nummer, „Singin‘ the Blues“, ist dann leider eine vergebene Chance. Das Stück hat Geschichte, da Carter (als Ersatz für Don Redman) und Hawkins 1926 beide bei der Battle von Fletcher Henderson dabei waren, als der gegen das Goldkette-Orchester mit Bix Beiderbecke und Frank Trumbauer (und ein Arrangement von Bill Challis) antrat und, wie Schoenberg schreibt, „the Henderson band with their proverbial pants down“ erwischt worden sei. Immerhin glänzt Hawkins am Ende des langweiligen Arrangements mit bezaubernden Linien unter Hamptons Vibraphonsolo.

Auch in dieser Session ist die Rhythmusgruppe – die vermutlich in der Form nie zuvor existiert hat – bemerkenswert. Weniger „smooth“ als bei der Session zuvor, aber ebenso zusammen. Als ganzes ist die Session wohl noch besser als die erste mit Hampton

Am 3. Januar ging Hawkins wieder mit einer eigenen Combo ins Studio, Coleman Hawkins‘ All-Star Octet. Mit dabei waren Benny Carter (t), J.C. Higginbotham (tb), Danny Polo (cl), Gene Rodgers (p), Lawrence Lucie (g), Johnny Williams (b) und Walter Johnson (d) – eine Mischung aus Freunden (Carter und auch Polo waren ebenfalls aus Europa zurückgekehrte Expats) und alten Henderson-Kollegen (Higgy, Lucie, Johnson). Leider ist das Material eher konventionell, aber Hawkins und Higginbotham glänzen mit ihren Soli. Carter macht sich gut als Trompeter, ist aber leider nicht solistsich zu hören. Bemerkenswert sind zwei der vier Stücke, „The Sheik of Araby“ und „Bouncing with Bean“, beide mit intensiven Soli von Hawkins, Polo und Higginbotham. Die Rhythmusgruppe (es war bis auf den Drummer jene von Hawkins‘ gerade gegründerter Big Band, dazu demnächst mehr) reagiert jedoch nicht (Sheik) bis wenig (Bean). Die Soli sind allerdings wirklich gut und wachsen auch organisch aus den Ensembles. Alle Beteiligten hatten die letzten Jahre in grösseren Bands gespielt und waren hervorragende Ensemble-Musiker. Eine Ballade wurde interessanterweise in dieser Session, der ersten unter Hawkins‘ Namen seit derjeningen mit „Body and Soul“, nicht aufgenommen. Insgesamt eine etwas flache Session, gerade nach den musikalischen Feuerwerken mit Hampton.

Am 15. Januar kam es zu einer weiteren Varsity Seven-Session mit derselben Besetzung wie zuvor, sowie auf zwei der vier Stücke Sönger Joe Turner (beide Sessions sind auf Classics 1939-1940 von Hawkins, nicht in der Mosaic-Box). Aber auch hier zündet die Musik nicht wirklich.

Die letzte Session des Winters fand dann am 30. Januar statt, Hawkins wirkte als Gastmusiker mit der Big Band von Benny Carter mit, in der u.a. Joe Thomas (mit dem Hawkins öfter aufnehmen sollte), Russell Smith (aus der Henderson-Band), Jimmy Archey (er spielte auch mit Louis Armstrong), Vic Dickenson und Eddie Heywood sassen. Die Session – mit einem Alternate Take von „Slow Freight“ und jeweils dreien von „Sleep“ und „Fish Fry“ – ist auch in der Mosaic-Box von Hawkins zu finden (sie öffnet bzw. – die Alternate Takes – schliesst CD 6, ich komme also doch langsam voran).

Und wie schön ist es, nach diesen verhaltenen Aufnahmen wieder brennende Musik zu hören. Aus dem Stück „Sleep“ (der Signature-Song eines gewisen Fred Waring) eine Uptempo-Nummer zu machen ist wohl eine Art musikalischer Insider-Joke von Carter, aber egal, die Band ist spitze (besonders hervorrangend in der ganzen Session die Lead-Trompete – ob es sich um Russell Smith oder Lincoln Mills handelst, ist nicht klar), das Arrangement abwechslungsreich und humorvoll, die Solisten – Joe Thomas, Eddie Heyword, Hawkins und Carter (as) – in bester Form. „Among My Souvernirs“ wird von Carters cremig-elegantem Altsaxophon vorgestellt, nach ein paar Riffs der Bläser folgt Sänger Roy Felton, dann Carter an der offenen Trompete und schliesslich Hawkins mit einem kleinen Post-Skriptum.

In „Fish Fry“ ist das interessanteste dann Carters Solo an der gestopften Trompete – wundervoll aufgenommen in der Liederkranz Hall, dem wohl besten Aufnahmestudio der Zeit. Auch im Gitarrensolo ist das zu hören – man hört, wie es von den Wänden zurückgeworfen wird. Auch hier bläst Hawkins nur ein kurzes Solo – und wie Schoenberg anmerkt, war diese Phase von Hawkins, diese Art Solo, der Ausgangspunkt für den Stil von Vido Musso, der u.a. mit Harry James‘ und Benny Goodmans Bands spielte.

Den Abschluss macht dann „Slow Freight“ mit prominenten Beiträgen von Carter (wieder an der Trompete mit Dämpfer), Hawkins und Ulysses Livingston an der elektrischen Gitarre. Hawkins‘ Beiträge sind hier insgesamt relativ „workmanlike“ und kurz, es ist Carter, der glänzt, besonders an der gestopften Trompete. Doch die Session als ganze ist sehr hörenswert.

Weiter geht es demnächst mit den grossartigen Chocolate Dandies, die im Mai für Commodore zusammengestellt wurden

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