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Hawkins ging wie erwähnt 1934 nach England. Hatten Louis Armstrong, Fats Waller und Duke Ellington 1933/34 schon kurze Gastspiele in England und Frankreich gegeben, so war Hawkins der erste, der sich für längere Zeit auf dem alten Kontinent niederliess und sich in die Jazzszenen der Gastländer integrierte. Für die europäischen Musiker natürlich ein Glücksfall – nicht für Tenorsaxophonisten. Unter letztefreund entwickelte sich Alix Combelle in Frankreich zu einem gelehrigen Schüler, der es selbst zu einem hohen Mass an Können bringen sollte.
Die Classics-Reihe dokumentiert Hawkins‘ europäische Wanderjahre auf zwei CDs, von denen mir nur die erste vorliegt, die die Aufnahmen von London im November 1934, Holland im Februar und August 1935, Paris im März 1935 sowie Zürich im Mai 1936 dokumentiert und ein einzelnes Stück aus Bern („early 1937“) nachschiebt, das Hawkins mit seinem Freund Ernst Berner am Klavier präsentiert.
Mit Jack Hyltons Bands – einem grossen Orchester mit Streichern und einem kleineren unter Leitung von Hyltons Ehefrau Ennis – feierte Hawkins grosse Erfolge und wurde in England sehr bekannt. Jazz galt damals in Europa als Avantgarde und entsprechend wurde hawkins auch als Künstler wahrgenommen und respektiert – von Leuten auch, die Musik wenig am Hut hatten. Aus Europa schrieb Hawkins eine grosse Anzahl von Briefen – an seine Ex-Frau Gertie, an Henry „Red“ Allen … aber nicht an Fletcher Henderson und seine Eltern. Henderson gegenüber hatte er möglicherweise ein schlechtes Gewissen, weil er seinen Vertrag mit Hylton Hals über Kopf abgeschlossen hatte. Auch beantwortete Hawkins viele Briefe aus der zahlreichen Fanpost aus Europa und schrieb eine Serie von drei Artikeln für den Melody Maker.
Im November 1934 nahm Hawkins in London vier Stücke mit dem Pianisten Stanley Black auf – die mittelprächtige Begleitung hinderte ihn keinesfalls daran, Musik von hoher Qualität einzuspielen.
Hawkins wurde von den Hylton-Musikern auch auf die Probe gestellt. Da er stets betonte, er könne in jeder Tonart spielen, stimmten sie eines Abends „It’s the Talk of the Town einen Halbton höher an – in Fis-Dur. Hawkins spielte sein Solo ohne mit der Wimper zu zucken und erwähnte den Vorfall nie – als sei sowas selbstverständlich.
Hyltons Band zog durch die englische Provinz und Hawkins und Hawkins überfiel die Einsamkeit. Er ging spazieren oder ins Kino, las Kriminalromane oder hörte sich auf seinem portablen Plattenspieler Aufnahmen der Boswell Sisters und der Mills Brothers an. Als es an Weihnachten 1934 nach Paris ging, kam er in eine pulsierende Grossstadt, die ihn sofort faszinierte – doch die Hylton-Band zog schon im Januar weiter in die Niederlande.
Als nächstes standen Auftritte in Deutschland auf dem Programm, doch Hawkins wurde die Einreise verboten. Hylton engagierte einen holländischen Akkordeonisten und liess Hawkins in den Niderlanden zurück. Doch die Ramblers, Hollands beste Swing-Band, engagierte Hawkins während seiner Zwangspause. Mit den Ramblers enstanden die wohl besten europäischen Aufnahmen Hawkins‘, im Februar und August 1935 sowie im April 1937. Solistisch ist er front and center, doch die Begleitung ist mehr denn kompetent. Hawkins klingt phantastisch und spielt mit mitreissendem Swing in „I Wish I Were Twins“, allerdings lenkt der mittelprächtige und unter sehr seltsamem Akzent leidende Gesang von Anny de Reuver (immerhin nur auf zwei von fünf Stücken) etwas ab.
Hawkins beschloss, auf dem Kontinent zu bleiben, nicht mit Hylton zurück nach England zu fahren. Er ging nach Paris und spielte ein Konzert in der Salle Pleyel, organisiert von Hot Club de France. Dort trat er neben französischen Musikern auch mit den Amerikanern Arthur Briggs, Billy Taylor (der Bassist, nehme ich an) und Castor McCort auf – letzteres der Mann, der wohl bei der Purvis-Session zu hören ist. Und Hawkins fand Gefallen an den Musikern – nach Doering (S. 33): „Die Band war ein Bastard, aber das hat mich überhaupt nicht berührt, ich spielte mir den Arsch ab.“ Im März folgten in Paris die nächsten Aufnahmen, diesmal mit Michel Warlop und seinem Orchester. Neben Arthur Briggs sassen auch Stéphane Grappelli (am Klavier), Django Reinhardt und französische Saxophonisten wie André Ekyan und Alix Combelle in der Band. Den Auftakt macht „Blue Moon“, die scheinenden Trompete ist wohl die von Briggs, nach zwei weiteren Band-Nummern folgte zum Abschluss „Star Dust“ im Trio mit Grappelli und Django. (Dass Grappelli Klavier spielt ist übrigens nicht weiter erwähnenswert, er war ein mehr denn kompetenter Pianist und hat auch unter eigenem Namen als Pianist aufgenommen.)
Diese und die weiteren Aufnahmen mit Django finden sich natürlich alle (in besserem Klang als bei Classics) auch in der kompletten Ausgabe von Frémeaux.
Aus Paris ging es im März mit dem Zug nach Kopenhagen – mit Zwischenstop im Banhofsbuffet von Hamburg („This beer is solid“), Hawkins war also doch kurz in Deutschland, das ihn nicht haben wollte. Umso begeisterter wurde er in Kopenhagen empfangen, 5000 Menschen warteten am Bahnhof auf ihn. Von da an ging es weiter nach Schweden und Norwegen und im Juni zurück nach Kopenhagen, wo am 7. Juni ein Konzert im Tivoli mitgeschnitten wurde (ich kenne die Aufnahme nicht). Hawkins erhielt in Dänemark keine Arbeitserlaubnis und wollte daher nach England zurück, doch auch das erwies sich als schwierig. Im Sommer blieb er in Kopenhagen, spielte aber nur selten. Ende Juli ging es wieder nach Holland, wo er ein Angebot hatte, in Scheveningen aufzutreten – und so kam es im August in Laren wieder zu Aufnahmen mit den Ramblers – nun mit Jack Bulterman an der Trompete (und für die Arrangements zuständig), dessen Qualitäten Hawkins eins besonders lobte. Besonders gelungen ist das Stück „Netcha’s Dream“, Hawkins‘ damaliger Freundin gewidmet. Und Gesang gibt es diesmal auch keinen.
Im Oktober nahm er sich eine Wohnung in Haag, verliess aber Ende Jahr Holland, weil er einen Job in der Corso Bar in Zürich kriegte (im Corso Haus liegt das Penthouse, das Udo Jürgens lange Zeit bewohnte bzw. als Zweit- oder Fünftdomizil besass, das Theater ist längst „nur“ noch Kino, das Entrée an Hässlichkeit kaum zu übertreffe, aber der grosse Saal ist wohl der schönste Kinosaal der Stadt – leider läuft da fast nur Schmonzes; 1934 hatte Max Ernst für das Corso ein grosses Wandbild geschaffen).
Das ganze Jahr 1936 verbrachte Hawkins in der Schweiz, reiste von Zürich aus auch zu Auftritten nach Lausanne oder Bern und spielte im Mai in Zürich mit The Berries um Ernst Höllerhagen (cl, as) und Ernst Berner (p) vier Stücke ein. Ist der „Tiger Rag“ ziemlich ruppig, so glänzt Hawkins in „It May Not Be True“ mit einem bestechenden Solo. Die echte Kuriosität hier ist jedoch „Love Cries“, denn in diesem Stück ist Hawkins als Sänger zu hören! Im April entstanden in Zürich wie es scheint auch Amateur-Aufnahmen von Hawkins mit dem Pianisten Joe Turner.
In St. Moritz lernte er Skifahren und mit Ernst Berner verband ihn bald eine Freundschaft. Dieser schrieb für down beat einen Artikel, aus dem Hawkins‘ Mutter erstmals seit zwei Jahren etwas zum Verbleib ihres Sohnes erfuhr. Im Brief, den sie ihm danach schrieb, musste sie ihm mitteilen, dass sein Vater im März 1935 von eigener Hand aus dem Leben geschieden war. Diese Nachricht scheint den sowieso schon verschlossenen Hawkins hart getroffen und eine Phase der Depression ausgelöst zu haben.
Ab Herbst 1936 spielte Hawkins in Genf und nahm sich da dann auch eine Wohnung, verliess jedoch im Apirl 1937 die Schweiz. In Holland nahm er am 26. April ein drittes Mal mit den Ramblers auf, ich kenne davon nur den Master Take von „A Strange Fact“ (auf der oben abgebildeten ASV-Compilation) sowie die Alternate Takes, die Neatworks herausgeben hat:
Auch von den ersten zwei Sessions mit den Ramblers finden sich hier von vier bzw. drei (von insgesamt fünf bzw. vier) Titeln andere Takes. Nur zwei Tage nach der dritten Session mit den Ramblers fand in Paris die famose Aufnahme-Session mit Benny Carter, Django Reinhardt und Stéphane Grappelli statt, bei der „Honeysuckle Rose“, „Crazy Rhyhtm“, „Out of Nowhere“ und „Sweet Georgia Brown“ enstanden – eine der besten Platten-Sessions aller Tage mit Hawkins in bestechender Form und mit einer Begleitband, die mit allen Wassern gewaschen ist. Grappelli sitzt erneut am Klavier, doch es ist Djangos Drive an der Gitarre, die den Swing der Stücke prägt. Benny Carter – der eigentlich vier Arrangements hätte mitgringen sollen, aber nur eines von „Honeysuckle Rose“ dabei hatte, wechselt zwischen Trompete und Altsax, André Ekyan spielt ebenfalls Altsax, Alix Combelle ist an der Klarinette wie dem Tenorsax zu hören, Eugène d’Hellemmes am Bass und Tommy Benford am Schlagzeug. Hawkins spielt in den ersten drei Stücken phantastische Soli, einmal hört man auch Django, wie er Hawkins zuruft, er solle weiterspielen – und dabei wohl freiwillig auf sein eigenes Solo verzichtet. Den Abschluss der Session macht dann ein lockerer Jam über eine später komplett totgespielte Nummer, die eigentlich so übel gar nicht ist.
Im Mai fand Hawkins sich wieder in Haag ein, nahm mit dem amerikanischen Pianisten Freddy Johnson zwei Duos auf, die er in England im Sommer auch als Noten herausgebracht hatte, „Lamentation“ und „Devotion“ (auch hiervon kenne ich wieder nur die Alternate Takes auf der Neatworks-CD).
Im Juni reiste Hawkins nach Brüssel und spielte dann in Ostende. Er traf in dieser Zeit wieder auf Benny Carter und nahm mit dessen internationaler Band im August 1937 eine Session für die niederländische Decca auf (Carter nahm danach noch in Paris im März 1938 mit Alix Combelle und Django auf, kehrte aber schon 1938 wieder in die USA zurück – und bereits im März 1937 hatte auch er mit den Ramblers eine Session eingespielt). Die vier Stücke dieser Band finden sich auch auf der oben abgebildeten Hawkins-Compilation von ASV. Freddy Johnson sitzt am Klavier, Goerge Christholm ist an der Posaune, Carter an Altsaxophon und Trompete, Jimmy Williams an Klarinette und Tenor zu hören, die Rhythmusgruppe wird von Ray Webb (g), Len Harrison (b) und Robert Montmarche (d) komplettiert. Das Ergebnis ist jedenfalls sehr überzeugend, Carter glänzt (auch an der Trompete!) ebenso wie Hawkins und die anderen machen nichts falsch.
Im Herbst 1937 gründete Hawkins mit Freddy Johnson und dem niederländischen Drummer Maurice van Kleef sein eigenes Trio. Sie traten in Amsterdam auf. Im November 1937 fuhr Hawkins wieder in die Schweiz, spielte in Zürich und St. Moritz. Anfang 1938 war er zurück in Holland und arbeitete zunächst in Utrecht, bevor er im März mit seinem Trio in Amsterdam auftrat – und bis August blieb, was das Trio zur beständigsten Gruppe seiner europäischen Jahre machte. Mitte Juni wurde das Trio mitgeschnitten – auch davon kenne ich wieder nur die sechs Alternate Takes (immerhin von allen Stücken), und sie präsentieren Hawkins in guter Form.
Im Herbst 1938 spielte Hawkins in Namur mit Arthur Briggs und in Brüssel mit dem Orchester von Jean Omer, im Jaanur war er zurück in Amsterdam und spielte wieder mit Freddy Johnson. Schon seit Mitte 1937 bemühte Hawkins sich darum, wieder nach England gehen zu können, doch die Musikergewerksachften verhinderten erfolgreich Auftritte von ausländischen Musikern. Eine Lösung wurde gefunden, als Selmer eine Tour organisierte, auf der Hawkins nur für Musiker spielen sollte, quasi „clinics“ und Werbung machen sollte, eine „educational tour“ mit kostenlosen Konzerten. So kam Hawkins im März 1939 wieder nach London, auf der kleinen Tour begleitete ihn Ronnie Wilde am Akkordeon.
Hawkins plante, auf Urlaub in die Vereinigten Staaten zu reisen und im Herbst zurück nach Holland zu reisen. Doch die angespannte politische Lage liess ihn anders planen. Hawkins absolvierte letzte Auftritte mit Hylton (er wurde als „Varieté-Künstler“ angekündigt, um das Auftrittsverbot zu umgehen), nahm im Mai mit diesem zwei letzte Stücke auf (ich kenne sie nicht), wohnte in Nottingham im selben Hotel, in dem Fats Waller auftrat und hat dort anscheinend auch mit diesem und George Shearing gejamt. Anfang Juli fuhr er nach Holland und packte seine Sachen, am 31. Juli 1939 war Hawkins zurück in New York – und inszenierte das grosse Schaulaufen, das im Einfangspost schon beschrieben wurde.
Als Fazit ist wohl festzuhalten, dass Hawkins nach ein paar Jahren die Nase voll hatte. Er konnte sich auf Kontinentaleuropa nur oberflächlich verständigen und spielte mit zweitklassigen Musikern – die allerdings in Europa zur Elite gehörten. Ausnahmen waren Musiker wie Django Reinhardt, Ernst Höllerhagen oder Alix Combelle und das Orchester von Fud Candrix. Doch am liebsten spielte Hawkins weiterhin mit Amerikanern wie Benny Carter, Arthur Briggs, Willie Lewis und Freddy Johnson, dem Pianisten, der ihm lange zur Verfügung gestanden hat. Und man muss sich natürlich auch vorstellen, dass Hawkins immer wieder Engagements mit Bands zu absolvieren hatte, die weit von der – relativen – Qualität der Ramblers, der Berries oder der Orchester Jack Hyltons entfernt waren. Gemäss Zeugnissen von Musikern, die damals mit Hawkins spielten, legte dieser jedoch allzeit eine Engelsgeduld an den Tag und behandelte sie alle wie gleichwertige Kollegen.
Die Jahre müssen – trotz diverser bekannter Liebschaften – einsame gewesen sein, Hawkins zog in halb Europa umher, hatte nur kürzere Zeit in Holland und in Genf ein eigenes Domizil und verliebte sich auch noch unglücklich in eine Londoner Bohémienne namens Renée Gertler. In seinen Jahren in Europa schien Hawkins‘ Alkoholkonsum sprunghaft anzusteigen. Dass er bei einer der Sessions mit den Ramblers in drei Stunden eine ganze Flasche Whisky getrunken hat ist ebenso überliefert wie dass er das Problem erkannt hat und versucht haben sol, seinen Alkoholkonsum einzuschränken.
Auf der Habenseite musste Hawkins in Europa deutlich weniger Rassendiskriminierung erleben (nach Deutschland kam er ja zum Glück gar nicht erst) und genoss gewiss auch seine Ausnahmestellung als Künstler, die Bewunderung, die ihm überall entgegengebracht wurde. Der tiefe Grund für seinen langen Aufenthalt in Europa mag jedoch das Bedürfnis gewesen sein, die Musikkultur des alten Kontinents kennenzulernen – man muss es sich noch einmal vergegenwärtigen: in einem anderen Land, unter anderen Umständen, wäre aus Hawkins vielleicht ein erfolgreicher Konzertmusiker. Auch las Hawkins neben den Krimis die Klassiker der Literatur und besuchte gerne Kunstausstellungen besonders der Alten Meister. In einem Interview hat Hawkins einmal behauptet, auf einem Schiff zwischen Europa und Amerika geboren worden zu sein – das ist nachweislich unwahr, verbildlicht aber in der Symbolik sein Selbstverständnis zwischen zwei Kulturkreisen, die ihn gleichermassen umtrieben. Er behauptete auch – man weiss nicht, ob daran etwas Wahres ist – eine Urgrossmutter sei Französin gewesen zu sein, und gerade Frankreich hatte es ihm angetan (er widmete später Paris eine ganze LP), doch sein Auftreten, auch das ist durch vielerlei Zeugnisse belegt, war das eines englischen Gentleman. Seine Kinder erhielten allesamt französische Namen: Colette, Mimi und René Etienne.
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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #162: Neuentdeckungen aus dem Katalog von CTI Records, 8.4., 22:00; # 163: 13.5., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba