Re: Coleman Hawkins – The Father of the Tenor Saxophone (1904-1969)

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Mit dem Bossa-Album freundete ich mich im Verlauf recht zahlreicher Jahre an – ich habe die drei bzw. vier (wenn man das grossartige mit Ellington mitzählt) Impulse-Alben schon seit meiner Gymnasiastenzeit und „Today and Now“ faszinierte mich sofort, wenngleich ich es – wie das fünf Jahre frühere „The Genius of Coleman Hawkins“ – nicht sofort verstand. Ich merkte, dass da einer zugange ist, der Unglaubliches kann – und tut. Aber es brauchte seine Zeit, bis ich quasi emotional auch da war … anyway, ich möchte durchaus auch noch über Aufnahmen schreiben, wenngleich nicht in der angebrachten Ausführlichkeit, das kriege ich nicht hin (zumal ich mich mit der Zeit von 1922 bis ca. 1939 gerade zum ersten Mal ausführlich befasse.

Das ganze hängt natürlich mit meiner nächsten StoneFM-Sendung zusammen, die ich in den Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr zu Faden geschlagen habe (die endgültige Auswahl steht jedoch noch nicht fest).

Bis zum ersten Drittel von CD 5 dokumentiert Classic Coleman Hawkins Sessions 1922-1947 (Mosaic Records, 8 CD, 2012) den Werdegang Hawkins‘ von den Anfängen bis zu seiner Abreise nach Europa 1934. Die Aufnahmen stammen allesamt aus den von Sony (Aufnahmen für die Label Banner, Bluebird, Brunswick, Cameo, Clarion, Columbia, Conqueror, Domino, Harmony, Lincoln, Melotone, OKeh, Oriole, Perfect, Romeo, Signature, Velvet Tone, Victor, Vocalion und „X“) bzw. sind public domain (Baronet, Ca-Song, Continental, Manor, Regis) – wobei auf dem einen oder anderen auch nur Reissues oder mal ein Alternate Take erschienen sein mag.

Vor allem sind unter den ersten 94 Tracks ausgewählte Aufnahmen mit Fletcher Henderson zu hören, in dessen Band Hawkins von 1923 an ein ganzes Jahrzehnt spielte und eine gewaltige Entwicklung durchmachte, in deren Verlauf hörbar wird, wie er von rein technischem Können zu wahrer Meisterschaft gelangt. In den frühen Dreissigern gibt es Soli zu hören, die dem berühmten „Body and Soul“, das nach seiner Rückkehr in die USA 1939 entstand, nur wenig nachstehen. Doch gerade das Balladenspiel beherrschte er anfangs wenig, fokussierte er doch stark auf die harmonische Dimension der Musik. Auf die Melodie zu achten gehörte dabei nicht zu den Prioritäten. Aber auch das schaffte Hawkins nach ein paar Jahren immer besser, und 1933 sind Balladen von unglaublicher Schönheit zu hören, erwähnt sei „It’s the Talk of the Town“ von der Session vom 22. September 1933.

Was Hawkins vor allem auszeichnete war jedoch sein Hunger, der unstillbar schien (auch im nicht-übertragenen Sinn, was ja oben auch schon Erwähnung fand). Mit einer unglaublichen Gier stürzte er sich in jede Session, sein Reservoire an Ideen schien endlos – er spielte vermutlich mehr als je einer vor ihm gespielt hat (und vielleicht auch mehr als je einer danach … obwohl, wenn man an Leute wie Braxton oder Murray denkt …). Jedenfalls sticht Hawkins schon in den Zwanzigern heraus, hebt sich selbst auf das sehr hohe Plateau, auf dem damals wohl nur Louis Armstrong und Sidney Bechet standen, das auch Earl Hines noch erreichen sollte (der so gesehen zuviel Zeit als Bandleiter verplemperte, statt Klavier zu spielen), später Art Tatum.

Fletcher Hendersons Big Band nahm eine grosse Menge Musik auf – die französischen Chrono(lo)gical Classics umfassen 17 CD, dann noch eine mit dem jüngeren Bruder Horace Henderson geteilte weitere. Horace war der weitaus bessere Pianist, bei ihm hört man nichts vom stiefen, leicht trägen Beat, den Fletcher als Pianist nicht loswerden konnte. Die Band als ganzes hatte kein so klares Profil, auch wenn – siehe das Zitat von Harry Carney oben – sie schon früh bewundert wurde. Das lag auch daran, dass in ihr neben Hawkins und – natürlich! – Louis Armstrong bei seinem Gastspiel 1924/25 eine ganze Menge sehr talentierter Musiker mitwirkten. Allerdings war es Don Redman, der in den frühen Jahren ein Profil gewährleisten konnte, das nach seinem Abgang nicht aufrechterhalten werden konnte, egal wie gut die Arrangements im einzelnen waren.

Don Redman (1900-1964) war wohl auch der Erfinder des „klassischen“ Big Band Jazz, der die Sections (Trompeten, Posaunen, Holzbläser) gegeneinander zu setzen begann, die Themen zwischen den ihnen hin- und herfliessen liess, die eine Section Kommentare zur anderen einstreuen liess (man höre irgendwas von Basies „New Testament“-Band aus den Fünfzigern, wenn man schöne Beispiele für diese Art Big Band-Musik hören will). Bei Henderson war Redman von 1923 bis 1927, dann wurde er von Jean Goldkette, dem Geschäftsmann, der auch Bix Beiderbecke in einer seiner Bands spielen hatte, abgeworben.

Weitere wichtige Musiker in Fletcher Hendersons Band waren der Posaunist Charlie Green, später auch Jimmy Harrison (der früh verstarb), der Klarinettist Buster Bailey (der mit ungeheurem Glanz spielte, seine Nachfolger, auch der junge Benny Carter, danach Russell Procope, gaben sich Mühe, aber ein echter Ersatz waren sie nicht). Dann Rex Stewart am Kornett, die Trompeter Joe Smith, Bobby Stark und Section-Leader Russell Smith, später auch der oben bereits erwähnte Henry „Red“ Allen, mit dem Hawkins auch gemeinsam Plattensessions leiten sollte. Ebenfalls zentral war Drummer Kaiser Marshall, der später in Walter Johnson (ab 1930) einen würdigen Nachfolger fand. Es gab einige Wechsel und Neuzugänge im Verlauf der Jahre, so stiess z.B. John Kirby am Bass dazu und verdrängte endlich die Tuba, zu der Vorgänger Ralph Escudero viel öfter griff denn zum Kontrabass, auch Edgar Sampson spielte in den frühen Dreissigern in der Band (auch Violine!), mit dem ebenfalls schon erwähnten J.C. Higginbotham stiess (allerdings nach Allens Abgang) noch ein wagemutiger Solist dazu.

Hawkins selbst wurde zunächst wie wohl bekannt ist von Lester Young ersetzt – doch Hendersons Frau scheint, so geht die Geschichte, ihn mit Platten von Hawkins eingedeckt zu haben, mit der dringenden Bitte, doch so zu spielen wie sein Vorgänger. Dem mochte Pres nicht nachkommen, doch mit Sicherheit nahm auch er so manches mit, was er von Hawkins hörte (das geht hin bis zu einzelnen Linien oder einer Weise, Soli zu eröffnen – Young mag der Präsident gewesen bzw. später geworden sein, aber Hawkins war eben der Vater von allen). Nach Youngs Abgang folgte für etwas längere Zeit Ben Webster, der wiederum von Elmer Williams und Chu Berry ersetzt wurde – zwei weiterer oben schon erwähnten Aspiranten auf Hawkins‘ Königsthron. Auch Dickie Wells, Hilton Jefferson und Sid Catlett gingen durch die Band, Red Allen und andere kehrten mal wieder zurück. Und – ein privates Faszinosum – um 1934 übernimmt Lawrence Lucie den Gitarren/Banjo-Posten vom ausgezeichneten Bernard Addison. Lucie begegnete mir auf Dollar Brands „African Marketplace“, einer meiner Inselplatten, der Mann lebte von 1907 bis 2009. Neben Henderson gehörten auch Jelly Roll Morton, Benny Carter oder Red Allen und später Coleman Hawkins zu seinen Brotherren, auch für Freddy Guy bei Ellington sprang er mal ein. Immerhin scheint jemand mit ihm noch rechtzeitig ein Interview geführt zu haben, auch wenn ich es online nicht finden kann.

Zu Louis Armstrong ist da auch noch ein Wort zu sagen: er spielte eineinhalb Jahre in Hendersons Band, scheint jedoch ausschliesslich als Solist tätig gewesen zu sein, da er kaum Notenlesen konnte (was damals nicht selten war, aber bei Henderson eigentlich verlangt wurde). Es gibt da die herzerwärmende Geschichte über den Tramp, der erstmals mit dieser Band spielt und bei einer Stelle, wo das Orchester ganz leise spielt, mit voller Kraft loslegt. Darauf angesprochen, was er sich dabei gedacht habe, meinte er, da stünde „pp“ in den Noten: „pound plenty“. Mit Armstrong finden sich in der Hawkins-Box übrigens keine Aufnahmen. Die Sessions wurde wohl so oft wie keine anderen von Henderson neu aufgelegt und Armstrong, der dem jungen Hawkins noch haushoch überlegen war, wurde in den Monaten natürlich zum zentralen Solisten der Band, folglich liegen diese Aufnahmen nicht im Fokus der Mosaic-Box. Es muss auch nochmal betont werden, dass es sich da nur um eine Auswahl handelt, die gesamten Henderson-Sessions mit Hawkins umfassen bei den Chrono(lo)gical Classics über zwölf CDs, dazu sind zwei Volumen mit „Alternative Takes in Chronological Order“ bei Neatwork erschienen, die bis auf die zwei letzten fünf (von 47) Stücke denselben Zeitraum (1923-1933) abdecken.

Anyway, ein äusserst faszinierendes Kapitel Jazzgeschichte, das Fletcher Henderson mit seiner Band schrieb, und für das Coleman Hawkins musikalisch die zentrale Figur ist. Und es ist ausserordentlich bedauernswert, dass Mosaic seine Pläne für eine grosse Henderson-Box längst aufgab (was auch erst den Weg freimachte für die Hawkins-Box, denn so massive Überschneidungen werden tunlichst vermieden), zumal durch den Sony/BMG-Merger inzwischen auch alle Aufnahmen unter einem Dach gelandet sind.

Neben den Henderson-Sessions (teils unter den Namen The Dixie Stompers, Henderson’s Roseland Orchestra und Connie’s Inn Orchestra) gibt es zum Auftakt eine einzelne Kostprove von Hawkins aus dem Jahr 1922 mit Mamie Smith and Her Jazz Hounds, dann auch ein einziges Stück mit Clarence Williams‘ Jazz Kings (1928 mit Red Allen, Buster Bailey u.a.), dann aber v.a. wundervolle Sessions mit McKinney’s Cotton Pickers (1929, u.a. mit Joe Smith, Benny Carter, Fats Waller), The Chocolate Dandies (1930, u.a. mit Rex Stewart, Jimmy Harrison, Benny Carter) und den Mound City Blue Blowers um den quirligen Red McKenzie und seinen Kamm (1929, u.a. mit Glenn Miller, der sich sehr gut schlägt, Pee Wee Russell, Eddie Condon, Pops Foster und Gene Krupa; und dann nochmal 1931 u.a. mit Muggsy Spanier, Jimmy Dorsey und Condon – beide Sessions findet man auf der ersten Classics von Hawkins, 1929-1934).

Im März 1933 nahm Hawkins dann seine erste Session als Leader auf – mit Henry „Red“ Allen, Dickie Wells, Russell Procope, Don Kirkpatrick, Bernard Addison, John Kirby und Walter Johnson – bis auf den Pianisten allesamt Kollegen aus der Henderson-Band (Wells war ganz neu dabei – auch er ein halsbrecherischer Improvisator, ganz wie Allen, beide ein ganzes Stück bekloppter als Hawkins, der sich doch meist verpflichtet fühlte, Dissonanzen irgendwie an das Ausgangsmaterial zurückzubinden, worüber Allen und Wells sich keine Gedanken machten).

Mit Henry „Red“ Allen (der aus Luis Russells Band aus New Orleans kam, wo auch J.C. Higginbotham gespielt hatte) nahm Hawkins 1933 eine ganze Reihe von Sessions auf. Classics hat die meisten auf Allens erste CD (1929-1933) gepackt, die mit Aufnahmen der Russell-Band unter Allens Namen öffnet (1929/30) und dann mit sieben Stücken gemeinsam mit Hawkins (1933) schliesst. Die Mosaic-Box enthält weitere Aufnahmen der beiden von 1933, darunter auch ein paar Alternate Takes (zwei von ihnen zuvor unveröffentlicht).

Auch eine Session, die grossteils unter Horace Hendersons Namen veröffentlicht wurde (und zum anderen Teil unter Fletchers), findet man in der Mosaic-Box (um zwei Stücke gekürzt) bzw. auf der ersten Classics-CD von Hawkins.

Absolut erwähnenswert ist dann die Session vom 8. März 1934 im Duo mit dem Pianisten Buck Washington – Hawkins spielt rhapsodisch, gelöst und entspannt. Washington ist hervorragend (er hatte 1930 schon ein Duo mit Louis Armstrong eingespielt und die Band für Bessie Smiths letzte Aufnahmesession geleitet – u.a. mit Benny Goodman, Jack Teagarden, Chu Berry und Frankie Newton), man hört Einflüsse von Earl Hines, er hat kein Problem mit komplizierten Changes und liefert einen guten Background, der Hawkins mit Ideen füttertt. Dieser ist wirklich in seinem Element, spielt vor allem in „It Sends Me“ ein grossartiges Solo, teils in Rubato, mit einem grossartigen Schluss. Etwas weniger gelungen ist „I Ain’t Got Nobody“, ein Romp, den Earl Hines auch schon aufgenommen hatte – Hawkins scheint mit repetitiven Phrasen (etwas, was sonst bei ihm fast nicht vorkommt) die Allgegenwärtigkeit des Blues beweisen zu wollen (Blues spielen, so liest man, habe er erst von Charlie Parker gelernt – und in der Tat gibt es in diesen frühen Jahren keine Blues-Einspielungen oder keine, die irgendwie herausstecken würden). Sehr schön dann wieder die dritte und letzte Nummer der Session, „On the Sunny Side of the Street“ (später eine Parade-Nummer des Hawkins-Schülers Illinios Jacquet). Hier hört man Hawkins seufzen und später schreien – und man hört wohl, wo Ben Webster und Don Byas bei ihrem Balladenspiel angeknüpft haben.

Zu diesem Post ist wohl irgendwann eine Ergänzung angesagt – mit Kommentaren zu oder wenigstens einer kleinen Liste von herausragenden Stücken aus den Jahren bei Henderson und aus den erwähnten Combo-Sessions.

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PS: Eine weitere Session fand im April 1930 mit Jack Purvis statt – oder auch nicht. Die drei Stücke vom 4. April 1930 finden sich auf Hawkins‘ erster Classics-CD, aber die kurzen Soli klingen nicht sehr nach ihm, die hervorragende Purvis-Ausgabe von Jazz Oracle (Jack Purvis, 1928-1935) nennt Castor McCord und erwähnt in den Liner Notes ein Gespräch darüber, gesichert scheint die Information nicht zu sein, im Mosaic-Booklet steht dazu soweit ich sehe nichts.

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