Re: Coleman Hawkins – The Father of the Tenor Saxophone (1904-1969)

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Gerade gefunden – es handelt sich um: Teddy Doering. Coleman Hawkins: sein Leben, seine Musik, seine Schallplatten. Waakirchen: Oreos, 2001 (Collection Jazz; Bd. 26).

Von da, S. 60-65:

Um 1960 zeigen sich Einflüsse von R & B und Hard Bop in seinem Spiel, sein Stil ist wieder gefragt (klar, der Cool Jazz war endgültig vorbei, unter den jüngeren lässt sich z.B. Stanley Turrentine rein vom Ton her direkt zu Hawkins in Bezug setzen).
Im Frühjahr tritt Hawkins in Essen mit dem Trio von Oscar Pettiford (mit Bud Powell und Kenny Clarke) auf – das Konzert wird aufgenommen und erscheint unter Powells Namen (bei Black Lion, inzwischen auch in dieser mir etwas verdächtigen WDR Jazzline-Serie – verdächtig, weil ich nicht weiss, ob da mit anständigen Quellen gearbeitet wird und weil dennoch Audio-BluRays und solcher Hokus Pokus herausgegeben wird)

Hawkins nimmt weiterhin auf, einerseits mit alten Gefährten aus der Swing-Ära (z.B. für das Prestige-Sublabel Swingville), andererseits findet er bei modernen Musikern Anschluss, nimmt z.B. ein grossartiges Stück mit Max Roach auf („Freedom Now Suite“, Candid 1960), begleitet dann dessen damalige Frau Abbey Lincoln – auf dem Stuhl neben ihm im Studio sitzt Eric Dolphy. Auch eine Reunion mit Pee Wee Russell kommt erstaunlich modern heraus (ich erwähnte ja neulich schon irgendwo, dass Russell in den Sechzigern auch Kompositionen von Coltrane und Ornette im Repertoire hatte). Dass Hawkins auch bei Impulse! landete, überrascht also wenig, und das schon erwähnte „Today and Now“ gehört zu seinen besten Alben. Ebenfalls 1962 wird Hawkins im Village Gate mitgeschnitten, mit derselben Band, aber auch mit den Gästen Roy Eldridge und Johnny Hodges. Ab Januar 1963 zog Tommy Flanagan allerdings dann mit Ella Fitzgeralds Band um die Welt, Hawkins flog aber u.a. nach Skandinavien, trat in Newport mit verschiedenen Musikern auf (es gibt auch Platten von Joe Williams sowie von Lambert, hendricks und Bavan … und bei Sonny Rollins spielte er als Gast ebenfalls mit, worauf die beiden für RCA ein ganzes Album im Studio einspielten. Rollins schenkt Hawkins gar nichts, doch dieser Kontert noch jede Attacke mehr als geschickt.

Ebenfalls 1963 trennt Hawkins sich von seiner Familie, bezieht ein Appartement, wo er die auch schon erwähnten Musik-Abende veranstaltet, mit andern klassische Musik hört (Bach, Mozart, Beethoven und besonders die Romantiker) und diskutiert, wohlgemerkt auf einer teuren neuen Hi-Fi-Anlage. Auch ein Steinway-Flügel steht bereit, auf dem Hawkins hie und da Chopin spielt und damit seine Besucher überrascht. Auch Cellosonaten spielte er. Joe Zawinul wohnte in der Nähe und wenn Ben Webster zu Besuch war (was anschienend öfter vorkam, die beiden nahmen ja auch für Riverside ein Album auf in der Zeit), gingen sie zu Hawkins und spielten und hörten zusammen Musik.

1964 wurden die Engagements seltener, Hawkins ging öfter in Clubs und lud Musiker zu sich ein, trat aber auch in Kanada auf und spielte mit JATP in Europa. Mit dem Free Jazz kam die erste neue Spielform des Jazz auf, mit der Hawkins nicht mehr mithalten konnte oder mochte, gemäss Döring (S. 63, etwas ungeschickte Übersetzung scheint mir) sagte er in einem Interview in Frankreich: „Sie spielen Freiheit und Ausweitungen, was immer das bedeutet. Diese Typen suchen ein Gimmick, eine Abkürzung. Es gibt keine Abkürzung. Alles was ich weiss ist, dass ich immer ncoh mein Instrument lerne.“ Im selben Interview fällt auch der Satz: „Ich bin ein bisschen faul geworden.“
(Hier ist aber eine Anmerkung angebracht: in den Dreissigern gibt es wenigens ein Solo mit Fletcher Henderson, bei dem Hawkins Phrasen türmt mit einer Ungestümheit und einem Drängen und in einer Unordnung und doch mit solcher Konsequenz, dass – wie Loren Schoenberg im Mosaic-Booklet anmerkt – Albert Ayler sicher gegrinst hätte, wenn er die Aufnahme gekannt hätte. Aber das war der wilde junge Hawkins.)

Anscheinend hatte Hawkins auch eine junge Freundin aus der Schweiz namens Heidi, von der er sich ebenfalls 1964 trennte (die könnte noch da sein, wenn sie wirklich 40 Jahre jünger war, wie Doering schreibt). Er wurde einsam, Eddie Locke, der Drummer, besuchte ihn anscheinend als einziger regelmässig und chauffierte ihn herum, wenn Hawkins mal wieder den Führerschein verloren hatte.

Anfang 1965 trat Hawkins im Five Spot auf – die Band bestand nun aus Barry Harris (die Detroiter Pianisten wurden ja auch schon erwähnt), Buddy Calett und Eddie Locke. Mit zusätzlichen Bläsern ging es wieder für Impulse! ins Studio, doch die Platte („Wrapped Tight“) kann nicht an „Today and Now“ anknüpfen. Im März spielte er im Village Vanguard mit Earl Hines, auch davon erschienen Platten – und Hawkins ist in Topform, ebenso wie Hines und der alte Kumpan Roy Eldridge an der Trompete. Auch ein Titel des Charlie Parker Memorial Concert von 1965 ist überliefert.

Gegen Ende 1965 fand dann die äusserliche Verwandlung statt – er rasierte sich nicht mehr, ging nicht mehr zum Friseur, aber was zunächst wie ein Zugeständnis an Flower Power ausschauen mochte, war wohl schlicht Vernachlässigung. Sein Gang wurde der eines alten Mannes, der schon immer hohe Alkoholkonsum begann sich bemerkbar zu machen. Es gibt auch Berichte von Sidemen: wenn er auftrat, setzte er sich zwischendurch immer wieder an einen Tisch und trank ein Glas – und die Trinkpausen wurden immer länger.

1966 trat Hawkins mit Harris, Major Holley (dem Bassisten der Band von 1962) und Locke im Vanguard gegenüber von Monk, Coltrane und Bill Evans. Doering (S. 65): „Diese Musiker erlebten Abend für Abend die Anzeichen eines körperlichen und geistigen Verfalls bei Hawkins mit, aber sie betonten auch, dass dazwischen immer wieder der alte Geist der Kreativität und des Wettbewerbsdenkens bei ihm durchbrach. Hawkins letzte Platten zeiten, ähnlich wie bei Lester Young ein paar Jahre vorher, diese Gespaltenheit deutlich: Neben einigen grandiosen, ja genialen Titeln gibt es immer mehr lustlos und völlig uninispiriert hingespielte Sütcke. Fans, die zu seinen Auftritten pilgerten, konnten nur auf ihr Glück hoffen, einen ‚guten‘ Abend zu erwischen. Die Qualität von Hawks Spiel schien im direkten Verhältnis zu seinem Alkoholspiegel zu stehen; der Stoff bestimmte nun sein Leben, auch seine künstlerische Leistung.“

Im Sommer 1966 tourte Hawkins wieder mit JATP, der Auftritt in London erschien auf „Jazz at the Philharmonic in London 1969“ [sic!] und zeig erneut einen Hawkins in bester Form. Aber auch während der Tournee waren die Zeichen nicht zu übersehen. Doering (S. 65): „Alte europäische Freunde, die mit ihm seit Jahrzehnten verbunden waren, berichteten, dass er nur noch interesselos und apathisch herumsass und sich nicht zu musikalischen Themen äussern wollte. Immer mehr zog er sich grübelnd und launisch in sich zurück. Er ass nur noch sehr wenig. Sein einziges Interesse schine der Nachschub an Whisky und Cognac zu sein. Bei einem Auftritt in Toronto im Februar 1967 stürute Hawk auf der Bühne, übergab sich und musste in ein Krankenhaus gebracht werden. Er hatte kurz vorher vom Tod von Edmond Hall und Muggsy Spanier erfahren und sich stärker als sonst betrunken. Auch in den folgenden Monaten kam es immer wieder zu Stürzen, und als er seine Ernährung völlig vernachlässigte, hatte er bisweilen nicht mehr die Kraft, seinen vollen Ton auf seinem Instrument zu produzieren. Auch die geistige Kraft für längere, sinnvolle Improviiationen schien ihm abhanden gekommen zu sein. Schliesslich, am 30. Juni in Oakland, war er überhaupt nicht mehr in der Lage zu spielen und wurde ausgebuht.“ Hawkins musste sich stationär behandeln lassen.

Es folgte dann trotzdem noch ein siebentägiges Engagement in Washington, D.C., „aber jeder im Publikum spürte, dass da ein kranker Mann vor ihnen stand“ (Doering, S. 65). Im Oktober 1967 ging er allerdings mit Oscar Petersons Trio auf Europa-Tournee. Dieter Zimmerle schrieb im Jazz Podium und verteidigte Hawkins – dieser hätte für den Jazz schon so viel getan, dass die Fans ihn im Alter nicht in Stich lassen sollten. Im November spielte er mit lokalen Leuten in London, trat dann auch regelmässig – in wechselnder Form – im Ronnie Scott’s auf (gibt es da Aufnahmen?) und traf öfter auf Ben Webster, mit der auch durch England tourte. Im Januar stellte ein Arzt eine Lungenentzündung fest, doch am 13. Februar entstanden in Dänemark ein paar allerletzte Aufnahmen (ich kenne sie nicht), die gut zu sein scheinen. Im Sommer spielte Hawkins – zurück in New York – noch ein paar Mal im Village Vanguard, im Herbst wurde es jedoch wieder still um ihn. Im Januar 1969 starb seine Mutter im Alter von 96 Jahren und „dies trieb ihn nur noch mehr in Depressionen“ (Doering, S. 66).

„Aber im März spielte er im Fillmore East, scheinbar wieder in guter Form“ (Doering, S. 66), im April trat er beim Chicagoer Fernsehsender WTTW zusammen mit Roy Eldridge und Barry Harris auf, doch zurück in New York „kam es zum endgültigen Zusammenbruch. Barry Harris wollte mit ihm auftreten, aber Hawk war offensichtlich zu schwach dafür. Harris alarmierte Hawks Frau, und gemeinsam brachten sie ihn zum Wickersham Hospital. Hier wurde eine bronchiale Lungenentzündung diagonstiziert, ausserdem eine allgemein Schwäche, hervorgerufen durch Unterernährung. Einige Freunde besuchten ihn dort noch, darunter Thelonious Monk, die Baroness Nica und der ‚Jazzpfarrer‘ John Garcia Gensel. Dann, am 19. Mai 1969, starb Coleman Hawkins.“ (Doering, S. 66).

Hier noch ein Plattencover mit einem weiteren eindrücklichen und irgendwie beängstigenden Bild des späten Hawkins:

Zu hören ist auf Seite A der Mitschnitt des Sets, das Hawkins 1959 am Playboy Jazz Festival in Chicago spielte – mit Eddie Higgins, Bob Cranshaw und Walter Perkins. Auf Seite B findet man ein paar der Stücke, die 1963 ebenfalls in Chicago im London House mitgeschnitten wurden, mit der damaligen regulären Band: Tommy Flanagan, Major Holley und Eddie Locke – die ausführlichere Ausgabe davon (ich habe eine Jasmine-CD aus den 90ern) hat Freshsound oder Gambit oder sonst ein Engel wieder vorgelegt: http://www.freshsoundrecords.com/at_the_london_house_1963-cd-5298.html
Aber das Playboy-Set ist klasse, die LP lohnt, wenn man sich erstmal mit Hawkins zu beschäftigen begonnen hat, sehr!

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