Re: rob mazurek, chicago & são paulo underground

#9449597  | PERMALINK

vorgarten

Registriert seit: 07.10.2007

Beiträge: 11,971

nach einigen sehr intimen aufnahmen jetzt wieder ein opus magnum von mazurek. dass das unter dem projektnamen EXPLODING STAR ORCHESTRA läuft, hat eher programmatische ausstrahlung als dass es eine feste band meint. identifizierbar in den großbesetzungen waren für mich bisher immer nicole mitchells flöte und das vibraphon als schwebender grund-sound (erst war john mcentire dafür zuständig, danach jason adasiewicz). letzteres fehlt komplett, mitchell ist nur auf cd 2 dabei. dass zwei der bisherigen vier alben charismatische gaststars hatten (bill dixon und roscoe mitchell), ist allerdings ein wichtiger hinweis auf das orchesterprogramm: die rückführung von sun ra über die aacm nach chicago.

das neue doppelalbum eröffnet dementsprechend im booklet mit folgendem zitat von amiri baraka, der den auftritt der band in sardinien (cd1) erlebt hat: „I thought the whole band was exceptional. Very shocking, actually, to see how well they absorbed all of that Sun Ra influence and went on to do their own thing, definitely.“
der auftritt selbst hat ein libretto von damon locks, verzerrt skandierte space poetry, zur grundlage, das er mit audiosamples von sun ra selbst atmosphärisch kommentieren lässt: „are you spotless?“
dann kommt eine völlig organisch organisierte suite aus musikalischen bewegungen, freie passagen, die sich mit vorwärtsschreitenden grooves abwechseln – wie so oft bei mazurek kommt hier auch der postrock von tortoise ins spiel (repräsentiert durch gitarrist jeff parker und drummer john herndon). einmal in größerer besetzung (besagter live-auftritt in sardinien), dann – auf cd 2 (live in chicago) – in oktettgröße. die stücke sind gleich, aber da sie nur aus einzelnen rhythmischen und melodischen skizzen bestehen, klingt es jeweils ganz anders, stark beeinflusst vom veranstaltungsort, der veränderten besetzung, der jeweiligen energie.

die sardinienbesetzung hat zwei drummer (chad tayler, john herndon) und die beiden unglaublichen sao-paulo-underground-mitglieder guilherme granado und mauricio takara, die fuzzige analogsynths, die brasilianische minigitarre cavaquinho, samples und percussion zum einsatz bringen und den gesamtsound somit schon mal sun-ra-mäßig ins all schießen. statt vibraphon gibt es die reflektierten stimmen von angelica sanchez (p) und jeff parker (g), die sich eher abwechseln als verdoppeln. das groove-fundament legt der bassist matthew lux (unglaublich stoisch und autoritär). einziger bläser neben mazurek ist der hervorragende tenorsaxofonist und klarinettist matt(hew) bauder.

das ganze ding bewegt sich ganz großartig und durchaus episch (kleiner seitenblick auf die zeitgenössische hipveranstaltung aus los angeles – schön, dazz mazurek niemals so hip wird, dass es hier zu grundsatzdiskussionen käme) an einzelnen melodiemomenten entlang, in auf- und abschwellenden soundwolken, mit langen, ungehetzten, eigenwilligen soli (angelica sanchez finde ich hier am stärksten – jeff parker wird manchmal von takaras cavaquinho die schau gestohlen), ohne dass das in irgendeiner weise verkopft klänge oder die suitenform als solches aufmerksamkeit verlangte.

in chicago klingt alles dann ganz anders. hier ist zwar endlich nicole mitchell dabei (unfassbar tolles flötensolo am ende des zweiten stücks), auch wieder bauder, lux und herndon, sanchez und parker, aber es fehlte die dichte der percussion und die space sounds der keyboards. die rhythm section ist tight, der mix etwas uneben (vor allem sanchez hat darunter zu leiden), die atmosphäre klingt sehr sommerlich, mehrmal musste ich an den sound der davis-band im cellar door denken. aber trotzdem fehlen mir hier ein paar dimensionen. das orchester des explodieren tons ist meiner meinung nach immer dann am tollsten, wenn es als dichte masse spürbar wird, die sich in bewegung setzt. hier ist es eine solide groovende band mit solistischen auftritten (u.a. ein schön fieses klimax-gitarrensolo von parker). es fehlt ein schwebender sound, synthetisch oder eben von den vibes, die hier einiges luftiger gemacht hätten. ich kann mir aber auch vorstellen, dass man mit gleichen guten gründen den zweiten auftritt dem ersten vorziehen kann.

sehr große empfehlung, wenn man sich gerade epische neuformulierungen des jazz interessiert. für mich ist das exploding star orchestra (ganz persönlich: neben threadgills zooid, colemans five elements, dem iyer trio und dem lehman octet) eine der bands, die ich jedem empfehlen kann, der nach neuen sounds im jazz sucht, die man woanders nicht findet.

Track Listing: Disc 1: Free Agents of Sound; Make Way to the City / The Arc of Slavery #72 (Part 1); The Arc of Slavery #72 (Part 2); Helmets in Our Poisonous Thoughts #16 / Awaken the World #41; Collections of Time. Disc 2: Free Agents of Sound; Collections of Time; Make Way to the City; The Arc of Slavery #72; Helmets of Our Poisonous Thoughts #16; Awaken the World #41.

Personnel: Rob Mazurek: cornet, electronics; Damon Locks: text, voice, electronics; Angelica Sanchez: piano; Jeff Parker: guitar; John Herndon: drums; Matthew Lux: electric bass; Matthew Bauder: tenor sax, clarinet; Chad Taylor: drums (Disc 1); Guilherme Ganado: keyboard, samplers, synth, voice (Disc 1); Mauricio Takara: cavaquinho, electronics, percussion (Disc 1); Nicole Mitchell -flutes, voice (Disc 2).

Record Label: Cuneiform Records, 2-cd, 3-lp.

--