Re: "Handgemachte Musik" – Sinnvoller Begriff oder überholte Vorstellung?

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nicht_vom_forum

Registriert seit: 18.01.2009

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grünschnabelÄußerungen des Künstlers sind sicherlich nicht unwichtig. Aber ich muss sagen, dass ich die mittlerweile mit ganz spitzen Fingern anfasse, wenn es darum geht, in eine lebendige Wechselbeziehung mit einem Werk einzutreten. Mit dem Vakuum – das ist natürlich richtig. Aber ist es nicht das Kunstwerk selbst, das den Kommentar zu seinem Entstehungskontext „aussprechen“ sollte? Wäre es nicht eher ein Defizit der Kunst, wenn man noch eine Bedienungsanleitung vom Künstler bräuchte?

Ich würde es jedenfalls als Defizit sehen, wenn das Zielpublikum zusätzlich zum Kunstwerk noch eine Bedienungsanleitung braucht. Genau wie ich allzu plakative und vereinfachte „Botschaften“ in einem Kunstwerk als Defizit sehe. Andererseits bieten Aussagen des Künstlers auch Ansatzpunkte dafür, wo die Grenzen zwischen dem vom Künstler bewusst Intendierten, den unbewussten Einflüssen und dem, was der Beobachter mitbringt verlaufen. Schließlich ist ja auch nicht jede mögliche Interpretation gleich „richtig“ und schon gar nicht gleich zutreffend im Sinn von “Was will uns der Künstler damit sagen“.

Je weiter sich ein Kunstwerk dann (zeitlich, geographisch, kulturell) von seinem Ursprung entfernt, desto mehr kann eine Bedienungsanleitung dann aber vom Mittel zur Behebung eines Defizits zur Notwendigkeit werden, um überhaupt Ebenen jenseits der reinen sinnlichen Erfahrung erschließen zu können. Beispielsweise ist ein Schraubenschlüssel nur dann ein Schraubenschlüssel, wenn es im relevanten Kontext auch Schrauben mit sechseckigem Kopf gibt. Sonst ist er nur ein seltsam geformtes Stück Metall.

Die Sehnsucht nach einer Eindeutigkeit des Verstehens, nach einem Schlüssel, der Kunst für alle gleichermaßen einsehbar aufschließt, der das Rätsel knackt, die „richtige“ Interpretation offenbar werden lässt, die findet man eigentlich auch außerhalb von Schule immer und immer wieder. Und das „Was will der Dichter uns damit sagen?“ ist ja einerseits schon fast eine kollektiv verständliche Karikatur von Kunstverstehen, andererseits scheint die Frage auch einem Bedürfnis vieler zu entsprechen. Aber Kunst ist kein Quiz, kein Rätselraten, keine Schatzsuche, keine simple Belehrung.

Ich empfinde „Was will uns der Künstler damit sagen“ in den meisten Fällen entweder als Fehlformulierung von „Was kann uns das Kunstwerk mitteilen“ oder (insbesondere in schulartigen Kontexten) als Bestandteil einer Strategie, mit der dann aufgrund von Vorkenntnissen des Fragenden entweder die Antworten als „richtig“ oder „falsch“ bewertet werden können oder bestimmten Interpretationen ein scheinbar objektiver Charakter zugewiesen werden kann. Beides ist m. E. aber gleich ärgerlich und sinnlos.

Rätselraten und Schatzsuche finde ich übrigens keine schlechten Metaphern für die Beschäftigung mit Kunst. Damit ist ja noch lange nicht gesagt, dass es auch eine eindeutige Lösung oder einen klar definierten Schatz gibt.

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