Re: "Handgemachte Musik" – Sinnvoller Begriff oder überholte Vorstellung?

Startseite Foren Kulturgut Das musikalische Philosophicum "Handgemachte Musik" – Sinnvoller Begriff oder überholte Vorstellung? Re: "Handgemachte Musik" – Sinnvoller Begriff oder überholte Vorstellung?

#9441197  | PERMALINK

gypsy-tail-wind
Moderator
Biomasse

Registriert seit: 25.01.2010

Beiträge: 68,341

Nicht_vom_ForumWo verläuft denn hinsichtlich des „vollumfänglich“ für Dich die Grenze zwischen Werk und Umwelt? Der Künstler kann ja m. E. prinzipiell nur sinnvolle Aussagen zu seiner Intention und zum Vorgehen während der „Erstveröffentlichung“ treffen, da nur das seiner Kontrolle unterliegt (und das dann schon „vollumfänglich“). Das Werk hat dagegen ja das Potential weit darüber hinaus Auswirkungen zu haben, die von der Umwelt und den durch das Kunswerk ausgelösten Diskursen abhängen. Dahingehend ist der Künstler dann ja auch eher „Dritter“. Ist in diesem Sinn eine klare Abgrenzung von Werk und Umwelt für Dich überhaupt zu treffen und falls nicht: Wie ist dann „vollumfänglich“ für irgendjemand, egal ob für den Künstler selbst oder das Publikum, möglich?

Guter Punkt – das war wohl schludrig formuliert, „vollumfänglich“ geht, denke ich, prinzipiell nicht. Was ich sagen wollte ist schlicht, dass ich nicht daran glaube, dass ein Autor sein Werk in jeder möglichen Hinsicht begreift – auch nicht die Erstveröffentlichung, selbst wenn er die (was ja bei Musikern oder Autoren auch höchst selten der Fall ist) vollumfänglich kontrollieren kann.

Und nein, klare Abgrenzungen scheinen mir wenig sinnvoll – die Rezeptionsgeschichte gehört doch unweigerlich zum Werk dazu, man kann sie nicht wegdenken – man kann Heidegger nicht ohne braune Sosse denken, Wagner ohne Antisemitismus, was weiss ich … wenn irgendwelche Irren sich im Werther-Kostüm das Leben nehmen, gehört das nunmal mit dazu, unabhängig davon, wie man sich in der Schuldfrage stellt.

Nicht_vom_ForumWelche Konsequenzen ziehst Du denn aus diesem Anspruch bei der Rezeption von Kunst und wie gehst Du damit konkret um? Gerade wenn – um Tom Waits oder Bob Dylan als Beispiel herauszugreifen – Kunswerk, reale Person und Bühnenpersönlichkeit einerseits offensichtlich voneinander unterschiedlich sind, sich auf der anderen Seite aber offensichtlich gegenseitig beeinflussen? Gerade wenn die Bühnenpersönlichkeit anscheinend wenig mit der Privatperson zu tun hat und letztere nicht gut bekannt ist, finde ich stichhaltige Urteile über „Aufrichtigkeit und Wahrheit“ schwierig, egal ob es Tom Waits oder Helene Fischer ist. Dass mich die Werke von einer dieser beiden Personen mehr ansprechen, ist davon ja nicht betroffen.

Gut möglich, dass das eine Anmassung ist – aber wir wären dann auch wieder bei einer Diskussion, die wir vor ein paar Monaten schon einmal führten (und die zu etwas bösem Blut führte – in der Klassik-Ecke war das glaube ich?), nämlich der Tatsache, dass wir nicht wahrnehmen können ohne zu urteilen oder wenigstens zu taxieren, dass wir nicht hinter unser Wissen treten können (und natürlich auch nicht vor unser Unwissen – aber daran zu arbeiten scheint mir eine nicht ganz unsinnige Betätigung, die ich hoffentlich meiner Lebtag nie aufgeben werde – stirbt die Neugierde, kann ich getrost auch abtreten).

Die ganze Diskussion wird mir aber etwas zu abgehoben, so ganz im luftleeren Raum. Wenn ich mir aber die Inszenierung von jemandem wie Helene Fischer anschaue, diese „Helene Fischer Show“, die gerade über alle Kanäle flimmerte, wie sie direkt in die Kamera (ins Herz des TV-Zuschauers) spricht, irgendwelche angeblich persönlichen Dinge erzählt, die aber genauso platt in jedem Arztroman am Bahnhofskiosk (oder den vollumfänglich kontrollierten selbstverlegten Schundromane unserer Tage) steht … nun, mich erfasst dann einfach das Grauen, das pure Grauen. Und es beelendet mich, dass sich so viele Menschen dieses verlogene Zeug anschauen und sich dabei noch denken: was für ein hübsches, liebes Mädchen, hätte unser Hermann Rudolph doch bloss so eine nette Frau … das reinste Elend. Und klar ist das ein Urteil und in den Augen mancher wohl eine Anmassung. Aber ich kann nicht anders.

--

"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #159: Martial Solal (1927–2024) – 21.1., 22:00; #160: 11.2., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba