Re: "Handgemachte Musik" – Sinnvoller Begriff oder überholte Vorstellung?

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nicht_vom_forum

Registriert seit: 18.01.2009

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grünschnabelEs gibt in Reich-Ranickis Biographie diese Passage, in welcher er über eine Begegnung mit Anna Seghers und das gemeinsame Gespräch über ihren Roman „Das siebte Kreuz“ schreibt:
„Diese bescheidene, sympathische Person, die jetzt (…) gemächlich über ihre Figuren schwatzte, (…) hat den Roman (…) überhaupt nicht verstanden. Sie hat keine Ahnung von der Rafinesse der hier angewandten künstlerischen Mittel, von der Virtuosität der Komposition. (…)
Was habe ich aus dem Gespräch mit Anna Seghers gelernt? Daß die meisten Schriftsteller von der Literatur nicht mehr verstehen als die Vögel von der Ornithologie. Und daß sie am wenigsten ihre eigenen Werke zu beurteilen imstande sind.“

Müsste man für das was MRR (nach meinem Verständnis des Textstücks) meint, nicht andere Formulierungen finden, mit denen scharf zwischen Künstler und Kunswerk unterschieden wird? Mit Rafinesse und Virtuosität verbinde ich eher Eigenschaften des Künstlers und nicht des Kunstwerks. Ich halte eine Unterscheidung zwischen den beiden Aspekten „Intention und Fertigkeit des Künsters“ und „Eigenschaften des Werks“ bei der Rezeption für durchaus wichtig. Jedenfalls solange man den ersten Aspekt nicht komplett beiseite lässt und sich nur auf die Analyse des Kunswerks beschränkt.

Ein schöner Effekt liegt darin, dass man nicht in Versuchung gerät, diese elende Frage nach der „Intention“ des Künstlers zu vertiefen. […] Oder aber es wurden irgendwelche Aussagen der Künstler zu solchen Schlüsseln erklärt, was mich ebenfalls nie richtig überzeugt hat.

Die -echte oder vermeintliche- Intention des Künstlers vollständig außen vor zu lassen erscheint mir aber, gerade wenn es Aussagen des Künstlers oder biographische Informationen gibt, dann auch zu kurz gegriffen. Kunst entsteht ja auch nicht im Vakuum und nur aus innerem Zwang des Künsters heraus sondern mit einer zugrundeliegenden Absicht. Sei es als Kommentar oder (beabsichtigte oder unbeabsichtigte) aktive Beeinflussung von künstlerischem und gesellschaftlichem Umfeld oder Publikum und Kollegen.

Als ich das für mich begriffen habe, verspürte ich eine geradezu befreiende Wirkung: Kunst war damit kein Acker mehr, den man auf der Suche nach dem einen verborgenen Schlüssel mühsam durchpflügen musste – und finden konnte man den ja ohnehin nicht, sondern es waren immer Dritte, die einem solche Schlüssel als die jeweils vermeintlich richtigen andrehen wollten.

Das klingt ein wenig nach einem Trauma aus der Schulzeit. ;-)

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