Re: Jazz zwischen Kunst und Kommerz

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gypsy-tail-wind
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grünschnabelWie kann man diese Unterscheidung praktisch treffen? Welchen Gradmesser gibt es, um den bösen, berechnenden, ruhmgeilen Kommerzhansel festzumachen? Und welchen Gewinn hätte man davon?

Es geht ja gar nicht ob böse und berechnend und ruhmgeil … eher um die Frage von gewissen Zugeständnissen, etwa all die grässlichen Sänger auf so vielen Produktionen aus den späten 20ern und frühen 30ern. Man denke nur an all die tollen Soli von Bunny Berigan … um zu ihnen vorzudringen, muss man oft üble Sauce über sich ergehen lassen – und es sage mir keiner, dass die Musiker das damals nicht schon so empfanden! aber anders waren die Platten vermutlich nicht an den Mann zu bringen … auf dem „race records“-Markt sah das anders aus … dennoch, die Behauptung, dass Bix Beiderbecke als Mitglied der Whiteman Band unglücklich sein *musste*, würde ich nicht so stehen lassen wollen – bei der Beurteilung kommt es immer auf den einzelnen Fall an, mit pauschalen Herngehensweisen ist selten jemandem gedient.

Oder: Charlie Parker with Strings … Ausverkauf? Naiver Traum eines „edlen Wilden“, Stravinsky zu spielen? Beides ist natürlich völliger Blödsinn, Parker war kein „Wilder“ (und edel war er vermutlich zuletzt), aber an „ernste“ Musik reichen die Arrangements dennoch nicht ran … aber Kommerz? Eher ein Künstler, der das macht, was er tun wollte.

Andererseits, der späte Frank Trumbauer … eine so tolle, frische Stimme, die sich (in der eigenen Band – wie gross der Einfluss des Erfolgsdrucks dabei war, oder wie zentral der Abgang seines musikalischen Partners, kann ich nicht wirklich einschätzen) quasi zur Zirkusnummer degradiert, lüpfig leichte Musik macht … und da und dort scheint dann der alte Genius doch wieder auf? Tragisch?

Miles in den 80ern …. Pop-Miles? Aber klar doch! Und ist daran etwas auszusetzen? Solange das Alben wie „Star People“ oder „Tutu“ oder „Amandla“ erlaubt (und nebenher noch „Aura“ und phantastische Live-Konzerte) – überhaupt nicht! Irgendwo las ich kürzlich, jemand hätte Miles mal empfohlen, Ronald Shannon Jackson zu holen oder wenigstens anzuhören … Miles‘ Urteil über die Free-Funker im Gefolge Ornettes war jedoch soweit ich weiss ein gnadenloses – dennoch, man überlege sich das einfach mal!

Louis Armstrong und die All Stars (ca. 1947-67 oder so): Ausverkauf, Anbiederung? Ein Onkel Tom? Oder einfach ein grossartiger Musiker und Entertainer (und der alleinige Begründer des Jazzgesangs obendrein, von wegen Onkel Tom!), der weiterspielt, bis zum Umfallen, und jeden Abend erneut alles gibt, was er gerade zu geben hat? Respekt!

Anthony Braxton und die Standards … Anthony Braxton, der seine Seele ans Uni-System vertickt, um im gesetzeren Alter den nutty professor spielen zu können und eine sichere Rente hat? Mag sein dass das ganze „ghost trance“ Ding ein Vernebelungsplan ist für mangelnde Kreativität oder um das Publikum auf irgendeine Fährte zu locken … aber wenn schon ein Rattenfänger, dann ist Braxton sicher nicht die schlechteste Wahl. Zudem ist der Mann (wie ich letzten Sommer in Willisau erleben durfte) durchaus noch am Leben und in der Lage, phantastische, abenteuerliche, offene Musik zu spielen (man höre sich statt der ganzen Standards- oder Ghost-Trance-Geschichten z.B. einfach die beiden Duo-Alben auf Intakt mit Andrew Cyrille an – noch Fragen?)

Das nur mal so ein paar spontane Beispiele … wie so oft fällt das Beruteilen der Gegenwart schwerer, aber einen Versuch ist es sicher wert. Und letztlich hört man doch oft mit eigenen Ohren (eher im Konzert denn auf CD, finde ich – jedenfalls interessiert mich das bei Zeitgenössischem oft mehr) ob jemand auf „play it safe“-Modus ist oder ohne Sicherheitsnetz und doppelten Boden zur Sache geht. Und wenn einer letzeres macht und dennoch Erfolg hat – dann treten natürlich oft auch Skeptiker auf den Plan … aber wie gesagt, einfach Ohren auf und selbst ein Urteil wagen (den Streit darum, dass man nicht ohne Urteil auskommt, möchte ich aber nicht wiederbeleben, bitte).

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