Re: John Cale

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nikodemus

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#3: PARIS 1919 (Reprise, 1973)

»This record is an example of the nicest ways of saying something ugly«

Nach den nicht gerade publikumswirksamen Instrumentalalben schuf Cale mit PARIS 1919 ein leicht zugängliches Album, welches mit seiner baroken Schönheit voller Streicher, teils beatlesken Melodien und vor allem den lebhaften Pinselstrichen des Little Feat Gitarritsten Lowell George als wohl beste LP von John Cale gilt. Aufrecht und so englisch wie es einem stolzen Waliser möglich ist, führt uns Cale durch den Aufstieg und Fall des Europas und deren Einwohner im 20. Jahrhundert. Hinter den vor allen melancholischen Tracks lauern indes geheimnisvolle Texte, in denen Cale poetisch und brutal menschlichen Ehrgeiz, Missbrauch und Gewalt in mystischen Orten, fernen Städten und der eigenen Kindheit umschreibt.

Es pfeift der Zug und orgelt der Kantor im eröffnenden „Child’s Christmas in Wales“, während Orangen ermordet werden, grasende Kühe uns vor unseren Türen verführen und die Nachbarschaft jubiliert. Im oberflächlich albernen „Hanky Panky Nohow“ versteckt sich weltmüder Witz über unsinnige Gesetze und fundamentalistischer Religionseifer, während das Titelstück mit seinem dem spöttischen Refrain (You’re a ghost la la la, i’m the church and i’ve come, to claim you with my iron drum) die Pariser Friedenskonferenz (die WW I beendete) bewitzelt.

Was durchgehend beeindruckt ist das Zusammenspiel der heiteren Gitarre Georges mit Cales getragenem Klavier- und Orgelspiel, die Fröhlichkeit der Melodien und die mystische Melancholie, die das Album durchzieht. Die zynischen und brutalen Graham Greene und Macbeth versprühen etwas frühsiebziger Glam Charme, retten uns vor den Höllenhunden, um uns dann die Köpfe zu zerhacken… somebody knows for sure, it’s gotta be me or it’s gotta be you. Alles nichts gegen den schicksalsergebene Leiden des müden Soldaten in „Half Past France“, der im Zug nach Hause sitzend sich anschaut, zu was die hässliche Gattung Mensch alles im Stande ist um abschließend ganz nebenbei die denkbar bittersten Zeile auszusprechen: people always bored me anyway. Und wer nicht weiß, wie wirkungsvoll diese modulationsarme Stimme singen kann, sollte sich das spukige Flüstern in „Antarctica Starts Here“ anhören, diese leise, mitfühlende Hymne auf den glanzlosen Untergang einer irren Filmkönigin. Besser geht nicht. [vgl. M. Spector, Liner Notes Paris 1919, 2006]

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and now we rise and we are everywhere