Antwort auf: Yusef Lateef (1920-2013)

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„The Gentle Giant“ ist das nächste Atlantic-Album Lateefs (SD 1602). Im September 1971 wurden erneut an zwei aufeinanderfolgenden Tagen Sessions anberaumt, aber wie in der Atlantic-Zeit üblich, griff man auch auf älteres Material zurück (und von all den Studio-Sessions blieb Einiges unveröffentlicht … eine Box mit den Sachen chronologisch und komplett wäre bestimmt interessant und würde eien anderen Blick auf die Musik erlauben). Sechs der acht Stücke wurden in den September-Sessions eingespielt, ein langes „Hey Jude“ sowie „Queen of the Night“ stammen von den Sessions im April, während derer die Musik für die A-Seite von „Suite 16“ aufgenommen wurde.

Das tolle Cover-Photo von Guiseppe Pino brauchte ich schon am Anfang des Threads … das Album ist das einzige von Lateef, das ich als LP habe – müsste man an die Wand hängen!

Das Album ist insgesamt ein sehr gutes geworden – zu dem Schluss komme ich jedenfalls inzwischen, es wuchs mir über die Jahre ziemlich ans Herz und bei den endlosen Durchgängen seit gestern Abend wächst es weiter. Eine bunt gemischte Sache, viel Flöte, funky Grooves, Keys, Fender Bass, aber auch Duos von Tootie Heath, Lateef und Kermit Moores Cello … aber das alles ist nur an der Oberfläche von Bedeutung, die Besetzung gibt inzwischen nur noch wenig Aufschluss darüber, ob ein Lateef-Track gut sein könnte oder nicht. Was mich hier überzeugt ist, wie entspannt das meiste groovt – das Material hätte das Zeug dazu gehabt, in den Neunzigern zum Kult-Fetisch der Acid Jazz-Generation zu werden! Und dennoch ist es nicht hohl oder oberflächlich, verliert sich nicht in Spielereien wie die Stücke auf „The Diverse“, auch mit dem plumpen Blues-Rock, wie er die schwächeren Stücke von „The Blue“ verdirbt, hat Lateef wie es scheint anbgeschlossen. Stattdessen dominieren weit ausgreifende Basslinien, sparsame Beats (angereichert mit etwas Percussion) (Tootie Heath, Jimmy Johnson, Ladzi Camara), die Flöten von Lateef (auch die Stimme und die kleinen Instrumente), dazu die tollen Sounds von Fender Rhodes (Ray Bryant und Kenny Barron) und Fender Bass (Chuck Rainey, Bill Salter), etwas Cello (Kermit Moore), etwas Vibes (Neal Boyer) und elektrische Gitarre (Eric Gale), aber auch Kontrabässe (Sam Jones, Bob Cunningham) und auch die Sweet Inspriations wirken wieder mit. Eigentlich klingt das alles gar nicht nach einem anderen Album als die Vorgänger – aber dennoch: hier funktioniert, zum zweiten Mal nach „Detroit“, alles. Vermutlich auch, weil nicht versucht wird, die Stücke in Pop-Arrangements zu packen, weil nichts von den steifen Arrangements der A-Seite von „Suite 16“ übrig bleibt.

Den Auftakt macht „Nubian Lady“ von Kenny Barron. Ein hypnotische Basslinie gespielt von Bill Salter am E-Bass, ein langsamer Groove mit den Keys von Ray Bryant und Kenny Barron (vermutlich an Klavier bzw. Fender Rhodes … wobei Bryant glaub ich da und dort auch mal E-Piano spielte) und Tootie Heath am Schlagzeug – darüber spielt Lateef an der Querflöte das Thema und soliert sehr entspannt, geräumig. Das Ding ist wirklich spitze! Erinnert mich ein wenig an Robin Kenyattas phantastisches ECM-Album „Girl from Martinique“ – Lateef had it down! Das hier ist in meinen Ohren eine aktualisierte Version des altbekannten Lateef-Grooves (der früher mit Rebab und gekratzten Ballonen daherkam, jetzt eben mit Fender Rhodes und E-Bass).

„Lowland Lullabye“ ist eine Miniatur, ein Arrangement eines Traditionals mit Tootie Heath an der Bambusflöte und Kermit Moore am gestrichenen Cello. Ihre Linien überlagern und verschieben sich und doch spielen sie eigentlich dasselbe. Sehr schönes Stück, in dem eigentlich nichts passiert, aber das ist auch nicht nötig. Es funktioniert auch als eine Art Prolog zum folgenden, neunminütigen „Hey Jude“ (das ich, wie gesagt, nie so recht begreifen werde). Lateef spielt das Thema an der Oboe, die Levels sind sehr niedrig, man hört ihn quasi aus der Ferne. „Do not adjust the playback level on your audio equipment – readjust your mind“ steht in grossgedruckten Lettern in der Tracklist nach dem Stück. Eric Gales Gitarre schlängelt sich dazu, man hört Chuck Raineys Bass … und ganz langsam wird die Musik lauter, kommt näher, Jimmy Johnsons Drums, Neal Boyers Vibes und die Backing Vocals der Sweet Inspirations werden hörbar, Gale greift zum Wah Wah-Pedal, Rainey hämmert die Basslinie, nach vier, fünf Minuten kann man allmählich richtig was hören … irgendwie gefällt mir das Ding, es fügt sich bestens in das ganze Album ein, aber zu den Höhepunkten gehört es in meinen Ohren nicht, der Beat ist hier – das liegt gewiss am Material – wieder so starr und steif wie auf den Stücken auf der ersten Seite von „Suite 16“.

Besser geht’s gleich auf der zweiten Seite weiter: wieder ein satter, entspannter Groove mit Querflöte und derselben Band wie auf dem Opener. Das Stück heisst „Jungle Plum“ und stammt erneut aus der Feder Kenny Barrons. Lateef ergänzt sein Flötensolo mit der Stimme – Teils in Kombination, teils im Wechselspielt mit seiner Flöte, das Tempo ist deutlich schneller als auf Barrons erstem Stück. In Lateefs „The Poor Fisherman“ sind gleich zwei Flöten – Bambusflöten – zu hören, Lateef und Heath spielen das Stück zusammen, ein ruhiger Moment im Kontrast zum umgebenden Funk, wie schon auf der ersten Seite der LP. Auch hier hat die Musik etwas Meditatives, sie geht nicht weit, Phrasen werden wiederholt, leicht variiert, die beiden geben sich Antwort, um dann wieder gemeinsam weiterzuspielen – aber die beinah vier Minuten sind im Nu um.

Weiter geht’s mit Kenny Barrons drittem Flöten-Groove-Stück, diesmal mit den Bässen von Sam Jones und Bob Cunningham und wieder den Keys (ich glaube aber, hier spielt nur einer, wohl Barron). Ladzi Cammara ergänzt und umpsielt den Beat von Tootie, Lateef spielt nur das Thema, ein Pianosolo steht in der Mitte, aber im Zentrum steht ganz der laszive Groove der ganzen Band. „Quee of the Night“ ist das zweite Stück aus dem Vorjahr, es dauert nur zwei Minuten und präsentiert Lateef mit Gales seltsam abgemischter Surf-Wah-Wah-Gitarre (die manchmal fast wie eine Rinky-Dink-Orgel wabert), wie sie schon in einem Stück auf „Sweet 16“ zu hören ist, Chuck Rainey und Jimmy Johnson. Lateef ist mit zwei Flötenstimmen zu hören – das Stück vergleicht man wohl am besten mit der Single, die Lateef für Riverside eingespielt hat. Auch das hier hat etwas Filmisches, ist zwar stilistisch ganz anders, aber Charme ist durchaus vorhanden – ein kleines Stück Exotica aus der Feder Lateefs.

Den Abschluss macht Lateefs „Below Yellow Bell“, wieder aus den Sessions mit Bryant, Barron etc., und wieder mit den Kontrabässen und Percussion. Lateef ist an einem dieser kleinen Stimmenverfremdungs-Dinger zu hören, eine Art Flöte mit Zug oder sowas. Der Groove ist hypnotisch und offen – wie ich oben schriebe, für mich ein legitimes Update des alten Lateef-Grooves, gefällt mir sehr gut. Damit schliesst sich auch der Bogen zum Beginn und endet ein durchaus dem Groove gewidmetes Album, das wenn ich mich nicht täusche ohne einen einzigen Ton Tenorsaxophon auskommt (auch wenn auf dem Backcover ein tolles Photo Lateefs am Tenor zu sehen ist.

Das nächste Atlantic-Album heisst „Hush ’n‘ Thunder“ (SD 1635) und entstand über diverse Sessions im Mai und September 1972. Im Mai waren Kenny Barron, Kermit Moore, die J.C. White Singers und Organist Al White dabei, in der fünften und letzten Session dann Barron, die Gitarristen David Spinozza, Cornell Dupree und Keith Loving sowie Gordine Edwards am Bass. Wieder blieb von den Aufnahmen einiges unveröffentlicht. Im September wurde für zwei Sessions eine ähnliche Band zusammengetrommelt wie schon im Jahr zuvor für „The Gentle Giant“. Neben Barron und Bryant (keys), Tootie Heath (d), Bill Salter (elb), Kermit Moore (vc), Bob Cunningham (b) wirkten auch Jimmy Owens (t), Hugh McCracken und Spinozza (g), Jimmy Johnson (d), Ralph MacDonald und Monroe „Bones“ Constantino (voc) mit.

Im September folgte noch eine dritte Session, die vollständig unveröffentlicht blieb, mich aber interessieren würde: Jimmy Owens, Lateef, Barron, Cunningham, Heath – ein rein akustisches Quintett, das sieben Stücke einspielte – wie das zu dem Zeitpunkt wohl geklungen hat? Eine weitere Session vom Oktober ergab zwei weitere, unveröffentlichte Stücke.

Als Opener hören wir „Come Sunday“ von Duke Ellington, im Duo von Lateefs Flöte und Kermit Moores Cello gespielt, ein wundervoller Auftakt. Beide sind mit Overdubs verdoppelt, aber die jeweils zweiten Stimmen fügen sich, besonders in der Flöte, fast wie ein Echo an die ersten an. „Come Sunday“ als Flöten- und Cello-Quartett – ziemlich unwahrscheinliche Idee, aber es funktioniert wirklich gut.

Die geweckten Erwartungen werden indes nicht gänzlich eingehalten. Schon die nächste Nummer, „The Hump“ von Kenny Barron, ist eine simple Groove-Nummer, wieder eine „geschlossene“, ohne diese Freiheit, die der Musik auf „Gentle Giant“ so gut tat. Über Barrons Rhodes, Cunninghams (oder Salters?) ödes Bass-Lick und den recht langweiligen Beat von Tootie Heath (ausgeschmückt immerhin von etwas Percussion) spielt Lateef ein Solo am Tenorsaxophon, das zwar klar als Lateef erkennbar ist, aber weit von den Höhen entfernt, die er anderswo erklingt – dazu ist der Track einfach zu öde, zuviel Rock, zuwenig Groove – schade irgendwie, das hätte besser gehen können.

Es folgt Barrons achtminütiges „Opus“ in zwei Teilen, von denselben Sessions aber mit Ray Bryant, Kermit Moore, Bones Constantino und den Bässen von Salter und Cunningham (ersterer wird als E-Bassist angegeben, letzterer als Kontrabassist). Lateef spielt Flöte, aber den Auftakt macht erstmal Moores Cello über Rhodes-Akkorde, noch ohne festes Tempo. Dann steigt Lateef ein, mit viel Vibrato, über eine Art Drohnen-Background – Erinnerungen an die Gil Evans-Arrangements für Miles in den späten Sechzigern. Nach etwas über drei Minuten setzt dann ein Groove ein und Lateef spielt das Thema, umschmückt von Bryant am (akustischen) Piano. Die Atmosphäre stimmt hier wieder, die Grooves sind offen, lassen Raum, der Beat ist zwar wieder sehr simpel und ziemlich eintönig, aber das macht in diesem Stück durchaus einen gewissen Reiz aus. Für Lateefs Solo wird das Bass-Lick dichter, der Beat etwas bewegter, man driftet – auch mit dem Honkytonk-Piano Bryants – wieder gefährlich in die Nähe der öden Rocker auf „Blue“ ab, aber das Ding funktioniert doch ganz gut. Lateefs Solo ist klasse, man hört ihn tief Keuchen zwischen den Phrasen, er wiederholt ähnliche Linien und verzahnt sie mit dem Bass-Lick und dem Beat. Leider wusste man nichts Besseres, als einen langsamen Fade-Out, um das Ding zu Ende zu bringen.

Der Fade-Out macht allerdings im Übergang zur nächsten Nummer Sinn. „This Old Building“ von Rev. Cleophus Robinson öffnet mit einem Intro, das man wohl als musique concrète beschreiben kann – nicht erkennbare Flattergeräusche, die immer lauter anschwellen – um dann unmittelbar in einen erdigen Gospel-Groove zu fallen mit dem Chor (inkl. Händeklatschen für den Beat), der Orgel – und darüber Lateef mit einem Tenorsolo. Auch hier gibt es kein Ende, das Stück fasert aus, man hört Stimmen im Studio, als sei das nichts als ein loser kleiner Jam – und so klingt auch Lateef.

Weiter geht’s mit Barrons „Prayer“, wieder zurück zum Funk, leider erneut zum eher steifen mit den Gitarren von McCracken und Spinozza, Bill Salters E-Bass, einem viel zu geradlinigen Beat von Johnson der Heath, etwas Stimme von Constantino und Lateef an der Shenai – allerdings eher an seltsamen Klängen interessiert denn an einer kohärenten Linie. Eine solche schält sich langsam heraus, aber vor dem steifen Hintergrund wirkt das nicht recht – und man erwartet den Fade-Out schon bevor er beginnt.

Dann folgt „Sunset“, wieder von Barron, das letzte Stück der Session von der auch „The Hump“ und „Opus“ stammen, Lateef an der Flöte im Quintett mit Barron (elp), Cunningham (b) und Heath (d). Zum Auftakt sind wieder seltsame Klänge zu hören, vermutlich von Cunningham und Heath erzeugt, während Barron wabernde Akkorde legt und Lateef frei darüber improvisiert – sehr bedächtig ist das alles, das Stück geht wieder in eine gute Richtung, öffnet Räume, die Lateef mit seiner Flöte dann bespielt.

Im nächsten Stück kehrt der Goseplchor zurück, wieder mit Orgel und Lateef am Tenor: „His Eye Is on the Sparrow“ ist zu hören, die alte Hymne, die Matana Roberts auf ihrem neusten Album ebenfalls bearbeitet hat. Das Stück ist klasse, Lateef soliert über den Chor, seine vokalen Qualitäten am Tenorsaxophon werden durch den Kontext noch unterstrichen. Ein Stück, um im Endlos-Modus zu hören!

Den Abschluss macht dann „Destination Paradise“ von Lateef, das Stück von der letzten Mai-Session mit den drei Gitarren, Bass und Barron am Rhodes. Ein meditatives Stück mit Flöte wie schon jenes zum Auftakt, Rhodes und Gitarren sind sparsam eingesetzt, der E-Bass setzt einen Puls, über den Lateef soliert. Ein hübscher Ausklang eines ziemlich inkonsistenten Albums.

„Part of the Search“ (SD 1650) entstand in zwei Sessions im April und drei weiteren von Mai bis Dezember 1973. Es ist als eine Art Hörfilm konzipiert mit kurzen Segmenten zwischen den Tracks, etwas Radio, als würde man die Sender wechseln und dabei da und dort ein Wort aufschnappen. Das erste Stück ist erneut ein Original von Kenny Barron, der „K.C. Shuffle“, dessen Titel schon alles verrät: ein Shuffle im KC-Swing-Stil aufgenommen mit einer kleine Big Band (Joe Newman, Jimmy Owens, Wayne Andre, Warren Covington, Garnett Brown, Frank Wess, Jerry Dodgion, Lateef, Barron, Al Gafa, Cunningham, Heath). Garnett Brown spielt wohl das Posaunensolo, danach ist Lateef am Tenor zu hören – natürlich kehrt er die Pres-Seite nach oben, wenn es um KC geht. Das Arrangement ist recht gut, gespielt ist es klasse (es sitzen ja auch ein paar Big Band Profis in der Gruppe) und Barron streut ein paar Basie „pling … pling … pling“ Akkorde ein.

„Oatsy Doatsy“ ist danach ein ziemlich Stilbruch, ein kurzes rockendes Ding mit Kinder-Reim von Lateef, das aber nur eine halbe Minute dauert und von Doug Sahm arrangiert wurde. Weiter geht es mit „Soul’s Bakery“ aus derselben Session wie der Opener. Ein hartnäckiges Bass-Riff aus zwei Tönen (das ein paar Male in den Changes verschoben wird) gibt den Ton vor, Heath trommelt erneut einen Shuffle, Lateef bläst wieder kraftvolles Tenor, auch als Teil des abschliessenden Ensembles, in dem er herauszuhören ist, wegen seiner Intonation und seiner Phrasierung. „Lunceford Prance“ ist das nächste Stück – das dritte und letzte der ersten Session. Es greift Motive aus Lunceford-Stücken auf und Heath treibt die Band mit fetten Backbeats an. Wie es sich gehört für eine Lunceford-Hommage, steht das Ensemble stark im Zentrum. Nach ein paar Takten Trompete (Newman wohl?) ist Lateef wieder am Tenor zu hören, Barron spielt etwas Barrelhouse-Klavier dahinter, die Bläser beginnen zu riffen, derweil Lateef weitersoliert.

Dann folgt Ray Charles‘ „Rockhouse“, ein einfacher Blues, der sich nach dem Piano-Intro Barrons rasch als ein grosses Basie-Zitat entpuppt. Cunningham und Heath halten den Beat durch, Lateef soliert am Tenor, unterstützt von Frank Wess, Charlie Fowlkes am Alt- bzw. Barisax sowie den später via Overdub hinzugefügten Trompeten Newmans und Charles Sullivans. Die Suche, um die es Lateef hier geht, soviel wird inzwischen klar, ist eine, die nach hinten blickt, in die Zeit der Big Bands, die er in seien Wanderjahren selbst einige Jahre erlebt hatte. Mit nochmal ein paar Sekunden „Oatsy Doatsy“ endet die erste Hälfte.

„In the Still of the Night“ wird vor Doo-Wop-Vocals von Lateef präsentiert – natürlich wieder am Tenor mit saftigem Sound. Ein charmantes kleines Ding (wer singt, weiss ich nicht, es gibt dazu keine Angaben). Es folgt „Superfine“, das dritte Stück von den Herbst-Sessions in Folge, eine Retro-Spassnummer von Bob Cunningham, in dem die Working Band (Barron, Cunningham, Heath) zu hören ist (irgendwer fünftes bedient noch Schlaghölzer oder einen Hold-Shaker oder sowas). Lateef bläst ein R&B-Tenorsolo, das sich gewaschen hat. Dann sind ein paar Takte rollenden Blues-Pianos von Barron zu hören, die allmählich in einen Boogie Woogie kippen, während Heath weiter eine Art Proto-Rock’n’Roll-Beat klöppelt – inconsequential fun.

Die nächsten beiden Stücke stammen wieder aus dem April, von der zweiten Session mit Willie Bridges (sax, fl) Charles McBurney, Rocky Morales (sax), Barron, Cunningham, Heath, sowie drei Streichern: Emanuel Green, Arnold Eidus (v) und Selwart
Clarke (vc). „Strange Lullaby“ ist ein hübsches Stück mit Lateef an der Flöte – und seltsamen, vermutlich via Overdub beigefügten Schnarch-Geräuschen und mehr. Nunja, der Zeitgeist eben … das ganze Album ist zwar voller klasse Musik, aber im Geiste wohl nicht so weit von Raymond Scott oder sowas entfernt. „Big Bass Drum“ ist eine Novelty-Nummer nur mit Gesang – eien Art Talking-Drum-Story.

Den Abschluss macht dann, wie könnte es anders sein, eine Ballade mit Lateef am Tenor, „Getting Sentimental“, einer dieser wundervollen alten Songs, die längst vergessen sind (komponiert von Gus Kahn-Matty Malneck). Das Stück ist das grosse Highlight eines nostalgischen Albums (dass Dorn sowas machte?!) und präsentiert Lateef einmal mehr als grossen Balladensänger, in einem wundervollen Solo und am Ende – das Stück dauert fast zehn Minuten – noch mit einer Solo-Kadenz. Klanglich greift er in die Vollen, erinnert an Hawkins und Webster aber mit diesem bittersüssen Beigeschmack, der Lateefs ganz eigene Note ist. In der Ausgestaltung der Linien lässt er aber auch hier wieder an Lester Young denken. Diese Aufnahme entstand am Ende der ersten Session vom September 1971 für „The Gentle Giant“, wer genau Lateef begleitet, ist nicht klar, da in der Session zwei Pianisten und Bassisten (Barron und Ray Bryant, Cunningham und Sam Jones) mitwirkten. Da die Namen von Bryant und Jones auch im Zusammenhang mit „Part of the Search“ genannt werden und Bryant der akustische Pianist der Sessions im September 1971 war, nehme ich an, wir hören hier Lateef, Bryant, Jones und Heath – aber sich bin ich mir gar nicht, Jones halte ich für wahrscheinlich, aber der Pianist klingt für meine Ohren so, dass es auch Barron sein könnte.

Im Juli 1974 wurde Lateef an zwei Tagen im Keystone Korner in San Francisco live aufgenommen. Ein Teil dieser Aufnahmen erschien auf dem Doppel-Album „10 Years Hence“ (SD2 1001), ein über zwanzig Minuten langes „Samba do Amor“ (mit „Time Montage“ zwischendrin) vom 5. Juli und ein achtminütiges „A Flower“ (mit Overdubs) vom 6. Juli. Drei weitere Stücke ohne Matrizen-Nummern (es wurden an jedem Abend über ein Dutzend Stücke aufgezeichnet, denen man Nummern vergab, von denen aber nur die beiden genannten veröffentlicht wurden) stammen auch von den Aufnahmen: „Yusef’s Mood“, „But Beautiful“ und „I Be Cold“ (letzteres wieder mit Overdubs), auch das lange Stücke („But Beautiful“ zwölf, die anderen beiden 18 Minuten).

Zu hören ist die damalige Working Band: Lateef, Barron, Cunningham und Heath. Für Lateef wird mal wieder das ganze Instrumentarium dokumentiert: ts, c-fl, sealhorns, shenai, oboe, african thumb-p, perc – aber ich vermute mal, dass das längst nicht alles ist (weitere Flöten und Percussionsinstrumente kommen dazu). Barron und Cunningham greifen ebenfalls zu Percussionsinstrumenten, Heath natürlich auch, aber ebenso hatte er seine Bambusflöte mit dabei.

Die Overdubs in „A Flower“ stammen von Gene Orloff und Sanford Allen (v), Alfred Brown (vla), Kermit Moore (vc), jene in „I Be Cold“ von Ernie Royal, Joe Wilder (t), Wayne Andre, Garnett Brown, Tony Studd (tb), Eddie Daniels (as), Yusef Lateef (ts), Bill Salter (elb), Cissy Houston, Eunice Peterson, Deidre Tuck, Rennelle Stafford (voc), arrangiert hat Kenny Barron (Cissy Houston die Vocals)

Den Auftakt macht die „Fantasie“ von Bob Cunningham, „Samba de Amor“ (Teil 1), dessen Thema er am Bass streicht, nach einer kurzen Ansage Lateefs und einem kollektiven Schepper-Intro. Dann stösst Lateef an der Querflöte dazu, die beiden spielen ein schönes Duo, bevor nach dreieinhalb Minuten der Samba-Beat einsetzt: Kenny Barron an der Cowbell, Lateef wohl am Scratcher, Cunningham mit Glöckchen, Heath am Kit. Dann stösst Cunningham zu Heath und setzt mit der Bass-Linie ein, während die Cowbell und der Scratcher weiterhin zu hören sind. Schliesslich setzt Barron sich ans Klavier und spielt etwas klischiertes Latin-Piano, während Lateef weiterschabt. Lateef greift zur Flöte, Cunningham wieder zum Bogen, der Beat hält an, aber Heath variiert ihn und Barron zieht sich auf ein paar einfache Akkorde zurück. Nach einem längeren gestrichenen Solo Cunninghams setzt Lateef zu einem ausgewachsenen Flötensolo an, derweil Barron und Heath wieder etwas aktiver werden. Später gibt es eine Samba-Passage, in der Lateef ein paar Töne wie aus einem Singnalhorn bläst und alle Heath unterstützen. Nach einer Viertelstunde bricht das Stück unvermittelt ab und die „Time Montage“ folgt, eine wohl später mithilfe einer Rasierklinge hinzugeschnittene Monate aus Uhrengeräuschen und Wecker-Alarm-Tönen. Daraus folgt dann ein Groove am E-Bass, offensichtilich wieder live eingespielt, Lateef an der Mbira, Heath und Barron an kleinen Instrumenten – „Samba do Amor“ Teil 2. Die Bass-Linie verdichtet sich, wird schneller, sehr funky – das Publikum hat hörbar Spass. Lateef setzt zu einem Solo an der Shenai an, was vor diesem Background viel besser passt als in dem einen Stück auf „Hush ’n‘ Thunder“. Dann wechselt er noch kurz zur Oboe, während Heath wieder mit dem Samba-Beat einsteigt und Cunningham auf den Kontrabass zurückwechselt. Am Schluss sind wir wieder bei Percussion, Drums und Kontrabass, es gibt noch eine Art beschleunigten Party-Shout-Chorus, Cunningham rifft, Heath tänzelt und die anderen schmücken aus. Ein tolles Stück, das in 22 Minuten keine Langweile aufkommen lässt!

„Yusef’s Mood“ ist ein staple der Band (die ja eigentlich erst die zweite Working Band Lateefs seit 1955 oder so ist … zuerst Lawson und Farrow mit zwei, drei wechselnden Drummern und hie und da Barry Harris oder Herman Wright, später Reggie Workman und Cecil McBee an ihrer Stelle, danach Barron, Cunningham und Heath). Barron spielt ein schönes Solo über einen Shuffle mit Beteiligung (Klatschen) des Publikums, doch das alles ist natürlich nur der Auftakt zu einem weiteren Stück, das eine ganze LP-Seite eingenommen hat, er zitiert „Billie’s Bounce“ und Lateef spielt im Hintergrund Stuff Smith, Louis Armstrong und Dizzy Gillespie (singt „I’se a Muggin'“, schreit „YEAH“ mit Raspelstimme und singt Bebop-Silben). Barrons Solo gewinnt immer mehr Fahrt und hat sich nach ein paar Minuten von allen Klischees verabschiedet (Lateef schreit im Hintergrund zustimmend: „Yeah!“). Nach über neun Minuten setzt Barron aus und Lateef lanciert sein Solo mit einer seiner typischen Phrasen. Auch er lässt sich viel Zeit und spielt ein tolles Blues-Solo. Die Rhythmusgruppe ist besorgt dafür, dass die Begleitung interessant bleibt, Barron steigt bald wieder ein, Heath shuffelt, Cunningham walkt und Lateef spielt sich langsam ins Feuer. Auch bei ihm gibt es Chants der Band, das ganze Ding ist spontan aber doch haben die vier ein paar Dinge auf Lager, die sie wohl abrufen konnten, damit ein so langes Stück nicht eintönig wird.

Die dritte LP-Seite ist dann die mit den zwei etwas kürzeren Stücken. „But Beautiful“, der Song von Jimmy Van Heusen, wird am Tenor gespielt, Barron begleitet, Cunningham legt lange Töne drunter, Heath ist praktisch unhörbar, während Lateef das Stück singt, wieder in a lestorian mood. Ein weiteres Meisterstück – vor muxmäuschenstillem Publikum übrigens. Was will man da auch anderes tun denn gebannt zu lauschen! Es folgt „A Flower“, eine Duo für Flöte und Piano, das im Nachhinein mit den erwähnten Overdubs versehen wurde. Immerhin hat Barron das selbst gemacht, aber ob er seinem Stück damit wirklich einen Gefallen tat, halte ich für zweifelhaft, erst recht zumal die Overdubs nur wenige Male kurz auftauchen – als könnte man sie ein- und wieder ausknipsen. Das Stück an sich ist allerdings sehr schön.

Die vierte Seite des Doppel-Albums gehört ganz Lateefs „I Be Cold“. Auch hier hat Barron die Overdubs arrangiert, der Fall liegt allerdings etwas anders. Das Stück öffnet mit Band Intros von Lateef über einen Funky Beat von Heath, über den Cunningham gestrichene Basstöne spielt, Barron funky Akkorde zu legen beginnt und Lateef irgendwelche seltsamen Klänge mit seiner verfremdeten Stimme erzeugt. Und sofort setzen die Overdubs ein: ein funky Bass-Ostinato von Bill Salter, die Stimmen von Cissy Houston und ihrer Mitstreiterinnen (nicht die Sweet Inspirations hier, soweit ich weiss). Lateef fällt in eine Art Sprechgesang über diesem Groove, der gestrichene Bass klingt ziemlich rauh und ergibt eine weitere spezielle Klangfarbe in dieses Lateef-Gebräu, das da und dort auch von Bläser-Sätzen angereichert wird. Nach etwa sechs Minuten setzt Lateef zu einem Flötensolo an, immer noch im Wechsel mit seinem Sprechgesang (I be cold … I’m a cold man … I do be cold … ‚coz sometimes I be cold …), dann bringen die Bläser ein neues Riff. Das Ding ist so elaboriert und v.a. so stark vom E-Bass-Riff abhängig, dass man sich fragt, wie das live denn geklungen haben könnte – vom Kontrabass ist jedenfalls bald nichts mehr zu hören – ich glaube, er spielt dasselbe Lick wie in Salters Overdubs, es gibt Passagen, in denen es scheint, als können man zwei Bässe hören, aber sicher bin ich mir nicht. Der Applaus ist jedenfalls ziemlich gross und scheint ohne Edit zu folgen – vermutlich war das Stück auch live, ohne Overdubs, ziemlich klasse!

Die Aufnahmen sind jedenfalls toll. Sie haben – auch durch die Länge der Stücke – nicht die Dichte und Prägnanz der frühen Aufnahmen Lateefs, aber sie zeigen doch, dass ein Quartett auch in den Siebzigern noch in der Lage war, sehr gute Musik zu spielen, ganz ohne die Möglichkeiten des Studios. Dass von den vielen Aufnahmen jemals mehr erscheint, wage ich nicht zu hoffen, aber interessiert wäre ich sehr, versteht sich!

„The Doctor Is In … and Out“ (SD 1685) ist das letzte Atlantic-Album Lateefs. Es wurde mit einigem Abstand im März 1976 aufgenommen und zeigt ihn auf dem Weg zu elektrischerem Funk als man ihn je zuvor hörte, schon im Opener „The Improvisers“, den Lateef komponiert und arrangiert hat. Er spielt Flöte über einem dichten Background, getragen von einem E-Bass-Lick und die Drums von Al Foster, dem Groove-Meister, der gerade seinen Job bei Miles los war, weil der sich zurückzog. Dom Um Romao spielt Percussion, ob jemand eine Sitar oder sowas anschlägt oder die Klänge aus dem Synthesizer von Dana McCurdy kann ich nicht sagen. Weiter sind an den Stücken beteiligt: Leonard Goines, Joseph Wilder (t), Jack Jeffers (tb), Jimmy Buffington (fhr), Jonathan Dorn (tuba), Kenny Barron (keys, arr), Billy Butler (g), Ron Carter und Anthony Jackson (b) (Cunningham spielt angeblich nur E-Bass – ich denke eher, die drei wechseln sich ab), Cissy Houston und Judy Clay (voc), sowie die Gäste David Nadien (v) und Robert Cunningham (narr) (keine Ahnung, ob das Bob ist, der Bassist, oder jemand anderes).

Die nächsten zwei Stücke stammen von Kenny Barron, in „Hellbound“ spielt Lateef die Oboe, die Synthesizer-Sounds sind im Latin-Background etwas gewöhnungsbedürftig, der Beat stapft etwas zu sehr, aber das Stück ist hübsch und lässt mich von der Stimmung her einmal mehr an die Klänge der Spät-Sechziger-Session von Miles/Gil denken. Nach Lateefs Oboensolo ist Barron am Rhodes zu hören. Das dritte Stück heisst „Mystique“, Lateef an der Flöte über einem Bass-Lick, Synthie-Sounds, Percussion und einem etwas starren Beat … woher die Vibes oder Marimba-Töne kommen, weiss ich nicht, Dom Um Romao? Egal … ich mag dieses Album irgendwie viel besser, als es das verdienen würde, überhaupt endet die Atlantic-Zeit gar nicht übel, „Part of th Search“ ist gewiss kein sonderlich tiefes Album und in seiner Rückwärtsgewandheit irgendwie niedlich, aber die Live-Aufnahmen und „The Doctor … “ sind schwer in Ordnung!

Die zweite Hälfte des Albums umfässt dann fünf Stücke, drei von ihnen sehr kurz, darunter das erste, „Mississippi Mud“ von Lateef, ein catchy Thema über eine schwere Basslinie mit Lateef am Tenor – und man halte sich fest: mit Varitone! Joel Dorn schrieb ja mal, dass er gerne ein Album von Lateef und Kirk gemacht hätte … aber eines von Lateef und Eddie Harris wäre in der Zeit sicher auch klasse geworden! „Mushmouth“ stammt wieder von Barron, und vom bluesigen Territorium geht’s wieder in den Funk, geprägt von der Gitarre Billy Butlers und einem Stotter-Beat. Die Linie erinnert ein wenig an „Freedom Jazz Dance“, eine lange, sich windende, von den Bläsern (inkl. Lateef am Sax) vorgestellte. Dom Um Romao ist im Ensemble ziemlich präsent, steuert auch kurz die Cuíca-Klänge bei, wie man sie von Miles‘ Bands der Siebziger kennt. Lateefs Tenor ist immer wieder zu hören – leider folgt dann ein Fade-Out, als er wieder richtig loslegt.

„Technological Homosapien“ von Lateef ist das Stück, auf dem es eine „narration“ zu hören gibt – begleitet von Synthesizer klängen. Ein sehr seltsames Ding. In den letzten zwei Minuten wird es dann zu einer Groove-Nummer über einen Synthi-Bass mit Lateef an der Flöte. In „Street Musicians“ ist in der ersten Hälfte die Violine von David Nadien vor Strassengeräuschen zu hören, dann steigt die Band ein, mit einem marching beat und Tuba. Den Abschluss macht dann „In a Little Spanish Town“, Lateef spielt Altsaxophon über eine alte Aufnahme des Stückes mit mehrstimmigem Gesang. Thom Jurek meint in seinem Allmusic-Review, die ganze Band spiele „bluesy hardbop“ über die alte Aufnahmen, ob das Piano auch neu ist, ist schwer zu sagen, es fügt sich so gut ein, dass es durchaus auch auf der alten Aufnahme sein könnte. Jedenfalls ist Lateef wundervoll – und wie Jurek auch schreibt, endet damit „a weird and wonderful record“.

Als Fazit muss ich sagen, dass die zweite Hälfte der Atlantic-Alben nicht schlechter ist, als die erste – im Gegenteil! „The Gentle Giant“ ist sehr toll, die Live-Aufnahmen aus dem Keystone Korner ebenso, „Part of the Search“ mag ein seltsames Nebenwerk sein, aber es macht mir grossen Spass – und auch das letzte Album ist ziemlich gut.

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