Re: Yusef Lateef (1920-2013)

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Auch 1963 war Lateef noch in Cannonballs Sextett … und das Konzert vom 24. März in Lugano, im Auditorium des RSI, zeigt die Band wieder in Höchstform und in insgesamt lebendigerer Stimmung als im Jazz Workshop. Der Mitschnitt erschien Mitte der Neunzigerjahre als Vol. 3 der „Swiss Radio Days Jazz Series“ von TCB Records.

Jones‘ „Jessica’s Birthday“ wird als stürmischer Opener gegeben, Shout-Chorus, Bläser-Backings in den Soli … das Sextett wird zu einer kleinen Big Band in diesen Arrangements. Dann folgt der „Jive Samba“, der auch etwas sicherer wirkt als im Jazz Workshop. Die Soli sind phantastisch, der Bass-Groove von Jones etwas lebendiger, beweglicher – und Lateefs Flötensolo ist klasse, wie er sich mit den Backings der Adderleys verzahnt, in die Flöte sings, einfachste Riffs aus ganz wenigen Tönen spielt … Zawinul ist inzwischen im Funk angekommen, das wird schon nach ein paar Akkorden klar. Dennoch hat er weiterhin einen sehr feinen Anschlag und einen nuancierten Touch, der manchmem Hardbopper ein wenig zu fehlen scheint. Nach seinem Solo folgt ein kurzes Duett mit Sam Jones (bald sollten sie auch ausgewachsene Duette spielen), in dem Zawinul eine Art Montuno-Riff spielt, und Hayes langsam aufbaut, um die Bläser zurückzuholen. Der Schluss gehört dann ganz Jones.

Weiter geht’s mit „Bohemia After Dark“, einer alten Nummer von Oscar Pettiford, die dem Savoy-Album von Kenny Clarke, auf dem die Adderleys zum ersten Mal einer breiteren Öffentlichkeit präsentiert wurden, den Titel gab (schon zwei Wochen später stand Cannonball als Leader seiner eigenen ersten Session im Studio, von Juni bis Oktober nahm er sechs Alben auf: neben dem von Clarke drei als Leader, eines unter Nat – der auch ein Savoy-Album ohne Cannonball einspielte – sowie eines mit Sarah Vaughan).

Leonard FeatherIn the summer of 1955 Cannonball came to New York. On the night after his arrival he and Nat visited the Café Bohemia in Greenwich Village, where Oscar Pettiford was leading a small group in which the tenor player was Jerome Richardson, whom you will hear on these sides with Cannonball. Richardson happened to show-up late that night, so Pettiford, who knew little about Cannonball and was not too anxious to take a chance, grudgingly allowed him to sit in. Pettiford whipped the band into I’ll Remember April at a racehorse pace, fully expecting to chase an embarrassed Cannonball off the bandstand. Cannon-ball, of course, sailed through a long solo with an equanimity that astonished everybody. As you might expect, he remained on the stand as a welcome guest for the rest of the night.

Within a few days word about Cannonball had spread around town. On the recommendation of Quincy Jones and Clark Terry, Bob Shad of EmArcy took the unprecedented step of signing Cannonball to an exclusive contract without ever having heard him play.

(aus den Liner Notes zum EmArcy-Album „Cannonball Adderley“, MG 36043)

Das Stück wird zu einer rasanten Achterbahnfahrt, in dem all die Vorzüge der Gruppe hörbar werden. Bewegliche Soli voller überraschender Wendungen, interessante, abwechslungsreiche Arrengements, eine Band, die wirklich gemeinsam atmet und auch bei diesem superschnellen Tempo keinen Beat verschläft.

Dann folgt mit „Dizzy’s Business“ das Pendant zum Opener von Quincy Jones, auch hier ist das Tempo schnell, aber nicht ganz so rasant wie in „Bohemia“. Dann wird Lateef angesagt, der sein Feature „Trouble in Mind“ an der Oboe zum besten gibt. Allerdings erreicht diese Version für mich nicht ganz die hohen Gipfel, die er in Comblain erklomm. Zawinuls Piano-Solo ist klasse, die Begleitung von Jones/Hayes wieder einmal bemerkenswert, vor allem Jones‘ tiefer Bass, der auch hier in Ansätzen zum Duo-Partner Zawinuls wird – und danach sein eigenes Solo kriegt. Es folgt der „Work Song“ (mit einem besonders tollen Solo Zawinuls) und schliesslich „Unit 7“ von Sam Jones (mit tollem Tenor von Lateef), auch hier in einer ausgewachsenen Version. Ein sehr gutes Konzert, das zwar vom Repertoire her wenig Neues bietet, aber einen „Jive Samba“ der Extraklasse und das rasante „Bohemia After Dark“ sind doch eine ziemlich Bereicherung – und das Konzert wirkt insgesamt wirklich lebendiger als die Mitschnitte aus dem Jazz Workshop.

„Nippon Soul“ (Riverside 9477) war mein erstes Lieblingsalbum von Cannonball Adderley, noch vor „Somethin‘ Else“ – und es gehört bis heute zu meinen liebsten. Die Aufnahmen entstanden am 14. und 15. Juli 1963 in der Sankei Hall in Tokyo. Das Adderley Sextet war im Juli 1963 auf Japan-Tournee und wurde in Tokyo dreimal mitgeschnitten: am 14. und 15. Juli in der Sankei Hall sowie am 19. Juli in der Kosei-Nenkin Hall.

Nach einer launischen Ansage Cannonballs („We’re going to play a new tune … written by, uhm … an American musician whose name is Cannonball Adderley …“) ist als Opener „Nippon Soul“ zu hören, eine catchy Nummer mit Two-Beat-Bass von Jones und einem kurzen Riff-Thema. Jones spielt hier wieder einmal eine zentrale Rolle, er lanciert das Solo von Nat Adderley und gibt dem Stück seine Struktur und Nat spielt eins seiner tollen, verspielten Soli. Ich finde es enorm schwer, sein Spiel in Worte zu fassen, „ebullient“ liest man manchmal, das passt wohl, fröhlich (in Richtung Clark Terry), aber auch lyrisch (auf ganz andere Weise als dieser), mal blechern-flächig mit breitem Pinsel, dann wieder scharf, stechend, auf den Punkt. An Nuancen hat er wohl mehr zu bieten als sein älterer Bruder, aber das faszinierende ist ja doch stets die Kombination ihrer beiden Stimmen, so auch hier, wenn Cannonball mit seinem Solo folgt. Dann Lateef an der Flöte und funky Joe.

„Easy to Love“ ist ein Parforce-Ritt für Cannonball, der nach einer kurzen Improvisation über Schlagzeug-Begleitung in horrendem Tempo öffnet. Ein paar Takte im Thema drin fallen dann die anderen ein. Das Solo ist ziemlich verdammt klasse, danach gibt’s noch Fours mit Louis Hayes – und man spürt auch bei dieser Aufnahme wieder in fast jeder Sekunde, wie der Funke überspringt, wie das begeisterte Publikum die Band inspiriert und anspornt. In seinen Liner Notes beschreibt Keepnews die Sankei Hall als ähnlich gross wie die Carnegie Hall – und die Adderleys spielten vor ausverkauften Rängen – was vor ihnen nur Ray Charles geschafft habe.

Dann folgt Lateefs „The Weaver“: „it’s soulful, it’s mean“, sagt Cannonball – und ja, das ist es! Zawinul und Jones etzten einen Vamp, der auch von Horace Silver stammen könnte, Hayes legt am Hi-Hat einen leichten Beat drüber, dann schleicht Lateefs Tenor sich heran, bevor schliesslich das Thema präsentiert wird, für das der Vamp aufgegeben wird. Auch die Soli werden dann in swingendem 4/4 präsentiert, Cannonball ist wie üblich der erste Solist, dann Lateef – beide auf ihre eigene Art unendlich soulful. Für Lateef kehrt der Vamp zurück, man hört ihn zwischen den Phrasen nach Luft japsen, er spielt wieder auf diese unverwechselbare Art, die zugleich so relaxed und cool ist aber auch brennend heiss und unglaublich intensiv. Er spielt tiefe multiphonics, fast wie Urschreie, aus denen er neuen Anlauf holt, in die Höhe geht, wieder multiphonics, Flatterzunge, Triller, etwas Vibrato … grossartig – ihm gehört dieses Stück ganz, er tanzt auf dem Rhythmus, der sich für Nat wieder in den 4/4-Swing wandelt – und Nat tanzt weiter, so charmant und leichtfüssig, wie nur er es konnte.

Dann folgt „Tengo Tango“, ein Nachfolger von „Jive Samba“, wenn man so will, von den Adderleys gemeinsam komponiert – nur zwei Minuten lang … aber was für ein Solo von Cannonball! Über einen stapfenden Tango-Beat, den Jones mit einer Art Walking Bass begleitet präsentieren die Bläser das Thema, dann wird der Beat etwas konventioneller und Cannonball legt los, begleitet von den riffenden Kollegen. Das Stück fand übrigens auch Einfang ins Repertoire der Band von James Brown und wurde 1964 eingespielt. Nat Jones, der Altsaxophonist und damalige musikalische Leiter stand da wohl dahinter.

Als nächstes ist das schon angekündigte ausgewachsene Duett von Zawinul und Jones zu hören. Sie wählten „Come Sunday“ aus Ellingtons Suite „Black, Brown and Beige“. Jones streicht den Bass, Zawinul präsentiert ausschmückend das Thema, dann wechselt Jones zum Pizzicato, Zawinul spielt das Thema nochmal, weniger verziert, und fast ohne das man es bemerkt, übernimmt Jones langsam den Part des Dialogpartners. Eine konventionelle Aufteilung in Solist und Begleiter gibt es hier nur beschränkt, am schönsten wird das Stück dann, wenn die beiden Stimmen sich ineinander verzahnen. Zum Ende gesellt sich ganz leise Hayes hinzu, Jones greift wieder zum Bogen und die Bläser begleiten Zawinul.

Als Closer der LP war dann eine neue Komposition Lateefs zu hören, „Brother John“, Coltrane gewidmet. Das Stück öffnet mal wieder mit einer Art Pedal Point, nach dem dissonanten Intro präsentiert Lateef das Thema an der Oboe, begleitet von den Adderleys, und spielt dann ein langes Solo, in dem Rhythmusgruppe den Groove (ein 6/8 wohl, jedenfalls ein Dreier) immer dichter webt. Man mag das als eine Hommage an Coltranes Sopransaxophon sehen (und den Walzer als Anklang an „My Favorite Things“), aber was Lateef hier spielt ist doch unverwechselbar sein eigenes Ding. Es folgen Soli von Nat, Cannonball und Zawinul … das Stück hält über dreizehn Minuten locker die Spannung und beendet eins der tollsten Alben von Adderley.

Auf der CD findet sich allerdings noch ein Bonustrack, der es in sich hat: meine liebste Version von „Work Song“. Cannonball öffnet mit einem feurigen Intro im Rubato, das Thema wird dann zweimal wiederholt, erst langsam, dann im zweiten Durchgang a tempo und deutlich schneller. Cannonball spielt eins seiner beeindruckenden Soli, wird von den anderen mit „Yeah!“-Rufen und mit Riffs angetrieben, während Hayes fast in einen Backbeat fällt. Dann folgt Nat, wendig, quirlig und dennoch ebenso soulful wie Cannonball. Lateef gelingt es am Tenor auch hier, ein paar exotisch klingende Linien einzuweben, die Temperartur sinkt nur scheinbar zu Beginn seines Solo, in Wahrheit kocht er wohl fast noch mehr als die Adderleys – und er lässt sich viel Zeit … und auch er wird von den anderen mit Rufen und Riffs unterstützt, setzt gegen Ende seines Solos, als Hayes wieder beim Backbeat ist und die Halle kocht die Flatterzunge so effektiv ein, wie bis dahin wohl noch nicht. Wie man eine solche Performance damals im Kasten halten konnte, ist unbegreifleich! Dann gibt’s einen shout chorus und Cannonball spielt das Thema, das er am Ende wieder im Rubato ausklingen lässt.

Eigentlich ist das ja Musik, die keine Worte braucht … aber ich möchte doch versuchen, meine Begeisterung (die in diesem Fall schon zwanzig Jahre währt) in Worte zu fassen, nachvollziehbar zu machen.

Die Stücke von „Nippon Soul“ wurden später mit weiteren fünf Stücken von den drei Tokyoter Konzerten auf der Doppel-LP „The Japanese Concerts“ (Milestone M-47029) wiederaufgelegt. Für die CD-Reissues beliess man „Nippon Soul“ und kreiierte einen neuen Twofer mit der LP „The Sextet“ (s.o.) und den „neuen“ Stücken von „The Japanese Concerts“. Da diese Stücke zusammen deutlich über 80 Minuten dauern, schob man die oben schon erwähnte phantastische Version von „Work Song“ (vom 14. oder 15. Juli) als Bonustrack auf den CD-Reissue von „Nippon Soul“.

„Bohemia After Dark“ und „This Here“, zwei Stücke vom 14./15. Juli bzw. 19. Juli, bildeten zusammen mit den drei Stücken vom 21. September 1962 die LP „The Sextet“, sie finden sich auf der CD „Dizzy’s Business“ zusammen mit vier weiteren Stücken aus Japan, zwei weitere stammen aus dem Konzert vom 19. Juli in der Sankei Hall („Dizzy’s Business“ und „Primitivo“), zwei weitere vom 14. oder 15. Juli aus der Kosei-Nenkin Hall („Autumn Leaves“ und „Jive Samba“). Diese vier Stücke erschienen zusammen mit dem bereits erwähnten „Work Song“ (auch vom 14./15. Juli) als die „neue“ (also zuvor unveröffentlichte) Hälfte auf dem Twofer „The Japanese Concerts“.

Das erste Stück ist „Autumn Leaves“, in einem Arrangement zu hören, das sich hörbar auf Miles bezieht, der ja auf Cannonballs Klassiker „Somethin‘ Else“ eine unsterbliche Version des Stückes von Joseph Kosma gespielt hat. Nats Ton am gestopften Kornett ist natürlich ein anderer, aber die Atmosphäre ist stimmig. Cannonball zitiert in seinem Solo irgendwas, was ich nicht erkenne, danach klingt kurz noch „As Time Goes By“ an, Nat zitiert später „Lullaby of Birdland“, Hayes lässt die Bass-Drum knallen und der Groove ist überhaupt in the pocket. Passend, dass „Dizzy’s Business“ folgt, denn Dizzys und der Adderley Business ist es, hart zu swingen und Musik zu machen, die dem Zuhörer ein Lächeln ins Gesicht zaubert, ohne dass die weniger schönen Aspekte des Lebens vernachlässigt würden – auch für sie ist Platz. Das Stück ist einmal mehr mitreissend.

Es folgt dann eine lange Version von „Primitivo“, dem Stück, das im Jazz Workshop noch ganz neu war und hier etwas ausgereifter klingt, wärmer, gelassener und zugleich zielgerichteter und auch freier. Wenn Lateef nach seinem tollen Oboensolo mit Flötentönen (die wieder nach irgendeinem little instrument klingen) in Nats Solo eingreift, dann passt das perfekt, wirkt aber dennoch spontan, improvisiert. Nat erweitert die Range seines Kornetts in Tiefen, die man sonst eher mit einer Tuba verbindet und konstrastiert diese Passagen (in denen er auch in sein Instrument zu singen oder summen scheint) mit hohen tänzerischen Linien. Zawinul, der inzwischen längst auf Planet Funk angekommen ist, ohne seinen feinen Touch zu verlieren, klingt hier mit seiner Wärme beinah afrikanisch. Und diese Wärme ist es wohl, die diese neue Version von „Primitivo“ der (tollen) ersten Einspielung voraus hat, auch am Ende, als wieder das ganze Ensemble zu hören ist.

Weiter geht es mit dem „Jive Samba“ und auch da stimmt sofort alles, wenn Zawinul mit Jones/Hayes den Auftakt machen – und die Soli sind ebenfalls erstklassig. Lateef ist hier an der Flöte erstmals mit seinem grossen Ton, seinem schönen Vibrato zu hören. Bisher schien sein Flötenspiel im Rahmen der Adderley-Band immer anders zu klingen, aber das lag wohl an den Set-Ups der Live-Aufnahmen – hier passt alles. Ton, Spiel, Aufnahmesound. Und auch Zawinuls Akkorde haben wieder diese fast tropische Wärme.

Die nächste Nummer ist dann eine altbekannte, Bobby Timmons‘ „This Here“, der erste grosse Hit von Addderleys Quintet, 1959 im Jazz Workshop in San Francisco live eingespielt. Auch diese neue Version – gespielt im Quintett ohne Lateef – ist sehr toll. Dann folgt eine weitere unglaublich schnelle Version von „Bohemia After Dark“, bevor die CD mit den bereits kurz erwähnten drei Stücken aus dem Jazz Workshop endet.

Für das Cover der Doppel-LP „The Japanese Concerts“ wurde ein Cover verwendet, das aus einer viel späteren Zeit stammt:

Mit diesen Aufnahmen aus Japan endet die Zeit Lateefs mit der Gruppe von Cannonball Adderley. Sie scheint mir was das Saxophonspiel betrifft, auch bei Cannonball die eine oder andere Spur hinterlassen zu haben. Musikalisch halte ich die Aufnahmen von 1962/63 für etwas vom Besten in Cannonballs Schaffen, weil Lateef neue Impulse gab und half, die Musik weiter zu öffnen. Bei Lateef waren die Spuren wohl weniger stark zu hören, aber ob Adderley später – als Lateef bei Atlantic war und mit elektrischen Instrumenten zu experimentieren begann – nicht doch einen gewissen Einfluss auf Lateef ausgeübt hat, ist eine andere Frage.

Adderley holte sich als Ersatz Charles Lloyd in die Band, der aber schon ziemlich bald wieder weg war. Von da an führte er seine Band zumeist wieder als Quintett mit seinem Bruder Nat, der ja stets Co-Leader war, auch wenn das nicht so angekündigt wurde.

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