Antwort auf: Yusef Lateef (1920-2013)

#9063479  | PERMALINK

gypsy-tail-wind
Moderator
Biomasse

Registriert seit: 25.01.2010

Beiträge: 67,069

Ich griff oben schon etwas vor … 1961 nahm Lateef drei weitere Alben auf, bevor er zu Cannonball Adderleys Band stiess. Das erste ist eins der verschütteten, die Geschichte von Charlie Parker Records kenne ich nicht im Detail, anscheinend wurde das Label nach Birds Tod von Chan Parker und dem Musikmagnaten Aubrey Mayhew gegründet, mit der Absicht, Parker-Bootlegs heimzuholen. Es erschienen aber auch andere feine Alben auf dem Label, von Cecil Payne, Duke Jordan, Slide Hampton, Cozy Cole und anderen, auch ältere Aufnahmen von Lester Young wurden herausgegeben (ich habe mir nie die Mühe gemacht, herauszufinden was auf den Young- und Parker-Alben genau drauf ist, vermute stark, dass man das alles anderswo findet – und dass auf den CP-Alben bewusst mit Infos gespaart wurde, man wollte ja die Leute zum Kauf animieren). Das ganze Material wurde von Membran in einer Box auf CD vorgelegt, ob sie sich lohnt, weiss ich nicht so recht, ein paar enthaltene Aufnahmen (die beiden Art Pepper-Alben etwa) gibt es auch anderswo und ich habe keine Ahnung, ob CP Records die damals ordentlich lizenziert hatte oder wie das lief … jedenfalls schert sich Membran natürlich nicht darum, das ist klar.

Das Lateef-Album entstand im August 1961 im Studio von Peter Ind, dem englischen Bassisten, der zum inner circle um Lennie Tristano gehörte. Neben Lateef (ts) sind Vincent Pitts (t), John Harmon (p), RayMcKinney (b) und George Scott (d) zu hören, acht kürzere Stücke stehen auf dem Programm, Parkers „Dexterity“ ist mit sechs Minuten das mit Abstand längste. Von Parker ist auch noch „Big Foot“ zu hören, zudem Coleman Hawkins‘ „Soul Blues“ (von dessen tollem Album „Soul“) und „Introlude“ von einem R. Baker. Wer diese Leute sind, weiss ich nicht, aber eine rasche Recherche zeigt, dass Pianist John Harmon (die CD nennt ihn „Hormon“) wohl noch lebt (und coolerweise in Oshkosh geboren ist):
http://www.npr.org/templates/story/story.php?storyId=98477739

Zu Vincent Pitts gibt es eine minimale MySpace-Seite, auf der die Jahreszahlen 1935-1990 angegeben werden, vermutlich stammte er aus St. Louis. Pitts wurde zusammen mit dem mir ebenso unbekannten Altsaxophonisten Tony Vaughan in einer Pause hinter dem Mellow Cellar Club, in St. Louis, Missouri von William Claxton photographiert (1961 in „Jazzlife“ publiziert):

Zu Drummer George Scott kann ich kaum etwas finden, der Name ist zu geläufig. Allmusic sagt, er spiele auf Mingus‘ „Pre Bird“ mit (s.o.), wie auch auf Freddie McCoys Funk Drops … dafür fehlt der Credit für „Lost in Sound“, da gibt Allmusic neben Leader Lateef nur einen weiteren Musiker an, Clifford Jarvis (d), der auf sechs der acht Stücke zu hören ist (Scott spielt auf „Blue Rocky“ und „Train Stop“), aber auch das unterschlagen die Angaben auf der CD … die Composer-Credits sind auch unklar, es steht fast überall (auch bei „Big Foot“) Lateefs Name, Allmusic nennt aber überall Pitts, gibt jedoch für „Big Foot“ korrekterweise Parker an (und das ist auch die Variante von Fresh Sound – keine Ahnung, ob deren CD-Ausgabe nützliche Liner Notes enthält).

Obwohl eines der Pitts-Stücke „Trudy’s Delight“ heisst, gehe ich davon aus, dass eine mögliche Verbindung von Vincent Pitts zu Trudy Pitts, der vor ein paar Jahren verstorbenen Organistin, eine falsche Fährte wäre (sie kam aus Philadelphia und war seit den Fünfzigern mit „Mr. C“ liiert). Vielleicht findet redbeans ja mehr dazu heraus, falls er das liest?

Der bekannteste der Gruppe neben Leader Lateef ist wohl Bassist Ray McKinney, aus der schon im Zusammenhang der letzten Savoy-Alben erwähnten McKinney-Familie. Hier findet sich ein längeres Portrait über ihn:
http://www.detroitmusichistory.com/ray-mckinney.html

Die Musik macht jedenfalls Spass, die Rhythmusgruppe funktioniert bestens, McKinney erdet alles, das Piano ist nicht sehr präsent, Lateef dafür in guter Form und durchweg am Tenor zu hören, Pitts‘ Trompete ist ein gutes wenngleich leichtes Gegengewicht, die Show gehört Lateef und er verlässt sich ganz auf die Rhythmiker, von denen McKinney wirklich gut spielt. Für Pitts waren das hier wohl die „15 minutes of fame“.

Das nächste Album ist wieder ein ganz grosser Klassiker: „Eastern Sounds“ (Prestige 7319). Ich habe mir die Veröffentlichungsgeschichte gar nie genauer angeschaut, aber anscheinend ist er zuerst als auf dem Moodsville-Sublabel erschienen (Moodsville MVLP22), manchmal wird es auch „Eastern Moods“ genannt, aber ein Cover mit dem Titel fand ich nicht. Auf Prestige erschien es dann anscheinen 1963 wieder. Warum das Cover manchmal gelb (orange?), dann rot und schliesslich blau ist, weiss ich auch nicht – da müsste es noch weitere Ausgaben geben, oder das war einer der Fälle, in denen in den späten Sechzigern oder den Siebzigern bei Reissues das Cover leicht abgeänder wurde (es gab da bei Prestige auch stärkere Eingriffe, oft sogar komplett neue Cover).

Der Opener heisst „The Plum Blossom“ und Lateef spielt eine simple Melodie über die Rebab von Rückkehrer Ernie Farrow, etwas Percussion von Lex Humphries und Piano-Akzente von Barry Harris. Das Instrument, das Lateef spielt ist eine tönerne „globular flute“ auch China, eine Art Ocarina wohl. Joe Goldberg in den Liner Notes: „The instrument is, in Lateef’s words, ‚about the size and shape of a grapefruit, with a hole on top and five holes scattered promiscuously on the surface.‘ The instrument has only a five not range and has a sound similar to that obtained by blowing into a pop bottle.“ Was Lateef damit anstellt ist ein kleines Meisterstück, fünf Töne reichen ihm. Barry Harris spielt in der Mitte des immerhin fünfminütigen Stückes ein schönes Solo – the mood is set.

„Blues for the Orient“ öffnet mit einem Pedal Point von Farrows Bass, dann steigt Lateef ein, an der Oboe natürlich. Anfangs ist sein Sound noch feiner, weniger druckvoll als gewohnt. Die Chorusse werden abwechslungsweise über den Pedal Point und über einen swingenden 4/4 der ganzen Rhythmusgruppe gespielt. Lateef baut ein tolles Solo auf – ein Höhepunkt des Albums, fraglos! Die Pedal Point-Passagen nutzt er, um arabisch klingende Linien zu spielen, mit der Intonation etwas lockerer umzugehen, als das Klavier es wohl erlauben würde. Harris öffnet sein Solo mit pentatonisch klingenden Linien, ist aber gewiss im 4/4 mehr daheim. Nach einem kurzen Solo Farrows spielt Lateef nochmal das Thema über den Pedal Point.

Das dritte Stück, „Chinq Miau“, ist gemäss Goldberg nach einer Chinesischen Skala benannt. Das kurze Stück ist im 5/4-Takt, Lateef spielt Tenor – ein äusserst souveränes Solo. Am Tenor und mit noch mehr Autorität geht’s weiter in „Don’t Blame Me“, dem einzigen Standard der Platte. Barry Harris‘ Klavierintro setzt den Ton – eine verlorene Kunst, diese kurzen Intros, die die Bebopper drauf hatten. Lateef spielt das Thema, umspielt es, liebkost es – aber das Highlight setzt wohl Harris mit einem phantastischen Solo.

Die zweite Hälfte des Albums öffnet mit Alex Norths „Love Theme from ‚Spartacus'“, das Lateef über einem ebenmässigen 3/4-Beat an der Oboe präsentiert. Ein wunderbar nostalgisches Stück, das in Lateefs Händen doch zu viel mehr als etwas Exotica wird – er macht Gebrauch von den harmonischen Implikationen und die Rhythmusgruppe erwacht langsam zu Leben – Harris‘ Solo zu Beginn mochte man noch kaum als solches betrachten, so eng hält er sich an die Struktur, aber Humphries baut mit Lateef zusammen behutsam auf und dan wieder ab, Farrow fällt am Ende in einen Pedal Point, über dem die Oboe das Stück ausklingen lässt.

„Snafu“ ist ein Tenor-Feature, das an die Hardbopper erinnert – an Rollins, aber auch an Coltrane. Über einen Latin-Beat präsentiert Lateef das Thema, Harris wirft catchy Akkorde ein, der Beat wird auch im Solo durchgehalten, Humphries überzeugt (anderswo, bei Donald Byrd oder Duke Pearson, fand ich ihn nie so wirklich toll … muss ich mal wieder nachhören, der Mann spielte ja auch bei Sun Ra …). Das Stück wird durch den Vamp und den Latin Groove ziemlich repetitiv, aber das ist ja einer der vielen Reize von Lateefs Musik und auch Harris hat kein Problem, in seinem Solo auf diesem Groove aufzubauen – obwohl er doch so gar kein Groover war (in Lee Morgans „The Sidewinder“ macht er seine Sache allerdings auch sehr, sehr gut).

Es folgt „Purple Flower“, eine Ballade mit Lateef am Tenor – das Thema besteht aus wenigen Tönen, Harris improvisiert kurz, Farrow spielt wieder fast nur Pedal Points. Sehr, sehr schön! Alfred Newmans „Love Theme from ‚The Robe'“ präsntiert Lateef an der Flöte – die man nach all dem Tenor (und der gelegentlichen Oboe) fast schon etwas vergessen hat. Aber das wäre ein Fehler, Lateef gehört definitiv zu den allerbesten Jazzflötisten. Hier spielt er das Thema, luftig, leicht, wieder über einen sparsamen Bass und einen eingängigen Groove von Humphries. Harris spielt ein weiteres tolles Balladensolo, weniger kantig als jenes in „Don’t Blame Me“, aber unglaublich reich an Farben. Lateef steigt dann mit seinem Solo ein, Harris hält sich sehr zurück, Farrow trägt die Flöte quasi auf Händen. Diese Miniaturen – zugleich so spontan und so durchdacht, so ausgeklügelt – faszinieren mich an Lateefs Musik immer wieder, die Perfektion aus dem Geist der Improvisation.

Als Closer ist noch ein orientalisches Stück zu hören, „The Three Faces of Balal“, der Frau und den Zwillingen eines Freundes von Lateef gewidmet. Farrow greift zur Rebab, Lateef spielt weiterhin Flöte, Harris und Humphries bieten Einsprengsel, einzelne Piano-Töne, Cymbeln, Triangel etc, während Farrow für einen eingängigen Groove sorgt. Dann übernimmt Harris von Lateef und spielt ein Solo aus abgehackten Phrasen, die sich mit dem Groove Farrows verzahnen, Humphries setzt ganz aus und lässt die beiden im Duo spielen, bis Lateef nochmal übernimmt. Das Stück endet dann mit Farrow und dem Groove, der sich ins Nichts verliert. Damit endet ein grandioses Album – Musik für die Insel!

Das letzte Album vor der Adderley-Pause zeit Lateef gleich noch einmal in allerbester Verfassung. „Into Something“ erschien auf dem Prestige-Sublabel New Jazz (NJ 8272) und präsentiert Lateef im Trio mit Herman Wright und Elvin Jones sowie im Quartett mit denselben und erneut Barry Harris. Aufgenommen wurde es Ende Dezember 1961, wie üblich in Rudy Van Gelders Studio.

An der Oboe öffnet Lateef das Album mit „Rasheed“ (den Namen seines damals achtzehnjärigen Sohnes). Das Stück ist – wie so oft, wenn Lateef zur Oboe greift – ein zwölftaktiger Blues. Nach Lateef ist auch Harris mit einem feinen Solo zu hören. Das nächste Stück ist das erste im Trio, „When You’re Smiling“, das über einen bouncenden Half-Beat von Wright am Tenor vorgestellt wird. Elvin Jones ist schon im Thema ziemlich geschäftig, macht das aber sehr zurückhaltend. Nach Lateefs Solo gibt es ein paar Runden Fours mit Elvin. Den Oldie, den Lateef durch seinen Vater kennengelernt hatte, nahmen u.a. Louis Armstrong, Nat Cole, Louis Prima, Billie Holiday, Frank Sinatra oder Patti Page auf.

Lateefs zweites Original trägt den Titel „Water Pistol“. Nat Hentoff zitiert Lateef in den Liner Notes: „I think it has a happy sound, the kind of happiness connected with childhood. And so I named the tune after a toy. […] I like to play about thoughts, feelings and images that are close to people,“ Yusef explains. „Music, after all, isn’t something separate from the rest of your life. It’s an extension of who you are all the time.“ Auch hier ist Lateef am Tenor zu hören, wieder im Trio, das Tempo ist schneller und Elvin etwas präsenter als zuvor, er gibt dem Stück einen tollen Boden, Lateef spielt mit seinem Ton – streckenweise erinnert er hier etwas an Sonny Rollins … aber solche Vergleiche hat Lateef nicht nötig, er spielt mit ebensoviel Autorität wie sein Kollege, der zu dieser Zeit gerade in einem seiner Sabbaticals war. Wieder folgen auf Lateefs Solo kürzere Passagen von Jones und Lateef im Dialog. Das Stück erinnert eben auch kompositorisch an Rollins … „Oleo“ von 1954 mit Miles stand wohl Pate (zu hören auf „Bags‘ Groove“, Prestige PR 7109).

Den Abschluss der ersten Seite markiert der Standard „You’ve Changed“, bei dem Barry Harris wieder dazustösst. Lateef spielt das Thema mit aller Zeit der Welt, seinen Ton am Tenor hält er schlank, im Fokus auf die Linien wird hier wieder Lester Youngs Einfluss spürbar. Harris hat die Aufgabe, das Stück auszuschmücken, ihm gehört auch das erste Solo nach der Darbietung des Themas, an dem er sich eng anschmiegt. In „I’ll Remember April“ kommt im Thema der übliche Latin Vamp zum Einsatz – mit 4/4 in der Bridge und später in den Soli. Lateef spielt Flöte und streut ein paar leich exotische Töne in sein Solo ein. Harris folgt, Jones hält den Puls leicht, spielt aber einmal mehr ziemlich viel und treibt an, während Wright das Fundament legt und einen feinen Walking Bass spielt. Die Fours werden hier zwischen Jones und Harris ausgetragen, für das abschliessende Thema kehrt der alte Vamp zurück (das ist wie bei „Star Eyes“ … irgendwie scheint es kein Entkommen zu geben, EIN Arrangement, das alle benutzen – aber Lateef hat durch die Flöte den Vorteil, dass es dennoch nicht abgelutscht klingt … und seine Begleiter sind naütrlich erstklassig).

„Koko’s Tune“ ist dem Detroiter Tenorsaxophonisten Kenneth Winfred gewidmet, einem damals bereits verstorbenen Freund Lateefs. Das Stück ist das dritte, das ohne Piano gespielt wird und Jones ist einmal mehr klasse und Lateef spielt mit seinem Sound, mit Trillern, Growls, Zwischentönen – man wünscht sich, wenn man diese Aufnahmen hört, dass es mal einen Live-Mitschnitt dieser Gruppe gegeben hätte! Der stünde gewiss direkt neben „A Night at the Village Vanguard“ von Sonny Rollins … nunja, träumen darf man ja immer.

Den Abschluss macht dann „P Bouk“, eine altbekannte Groove-Nummer aus Detroiter Tagen, auch hier ist Lateef am Tenor zu hören und Elvin Jones läuft zu Hochform auf. Ein sehr schöner Abschluss für ein tolles Album, das sehr anders ist als der unmittelbare Vorgänger, gradliniger, jazziger – wie Cover und Titel suggerieren.

--

"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #151: Neuheiten aus dem Archiv – 09.04., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba