Antwort auf: Yusef Lateef (1920-2013)

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Am 9. April 1958 gab Lateefs neue Grupe das erste Jazz-Konzert in der Cranbrook Academy of Art. Abgänger der Institution, die 1927 gegründet wurde, waren etwa Eero Saarinen, Ray und Charles Eames oder Duane Hanson. Drei Studenten wurden delegiert, um Lateef zu kontaktieren, die Musiker besuchten den Campus und waren beeindruckt. Eintritt zum Konzert war frei, es strömten 500 Besucher nach Bloomfield Hills, Michigan, das etwa 20 oder 25 Kilometer nördlich von Detroit liegt.

Die Band hatte zu der Zeit etwa acht Monate in Klein’s Showbar in Detroit auf dem Buckel. Sie bestand aus Lateef (ts, fl, perc), Frank Morelli (bari), Terry Pollard (p), William Austin (b, rebab), Frank Gant (d, gong, finger perc). In Nat Hentoffs Liner Notes kommen die Musiker zu Wort, was Lateefs Musik betrifft:

„After four years of nervous music [Terry Gibbs, Sonny Stitt u.a.] … I had to get used to being relaxed with Yusef. I don’t have to jump up and down all the time any more. … Working with Yusef, you never get into a rut. We play real good funky blues; rhythms in 7/4, 5/4, and waltz times; and so many other things are going on. And yet it’s all relaxed.“ (Terry Pollard)

„[H]is music has a different feel to i and there’s always something else going on.“ (William Austin)

„[Lateef’s music is] soulful; always relaxed in whatever tempo it’s played; and Yusef never plays any wasted notes.“ (Frank Morelli)

Nach dem langen und äusserst evokativen „Morning“, in dem die Musik quasi auf die Welt kommt, wenn man so sagen darf, endet die erste Hälte mit „Brazil“, der perfekte Lateef-Novelty … zweieinhalb Minuten im 5/4 mit hypnotischem Groove und Bari-Ostinato. „Morning“ hatbe mit einer Melodie angefangen, die er jeden Tag gesungen und irgendwann notiert habe. Die Linie hat in der Tat einen nah-östlichen Einschlag, Gant trommelt einen leichten Beat dazu, wieder einmal fast ohne Becken. Morelli, ein 1933 in Detroit geborener Musiker, spielt ein erstes Solo – und das Barisax ist eine Bereicherung für Lateefs Musik! Schade, dass es praktisch nie zum Einsatz kam! Lateef folgt dann mit einem Tenorsolo, in dem er in langsamen Bögen mit weitem Atem und enormer Stringenz etwas aufbaut.

Die zweite Hälfte öffnet mit dem kurzen, meditativen „Let Every Soul Say Amen“ – getragene Flötenlinien über Percussion, leisen bewegten Piano- und Barisaxläufen … etwas Trommeln, der Gong, der Bass gestrichen (glaub ich, man hört ihn kaum, fühlt in aber – leider klingt die Aufnahme allgemein nicht sehr gut). Dann folgt das lange „Woody’n You“, eine Bebop-Nummer von Dizzy Gillespie, in der die ganze Band Raum für längere Soli kriegt – und wie in „Morning“ alle zu irgendwelchen Percussion-Instrumenten greifen, die im Line-Up nicht verzeichnet sind. Lateefs zweites Solo (in dem er auch noch haarscharf an ein paar alten jiddischen Stickele vorbeischrammt) ist grandios!

Ein interessanter Absatz aus Nat Hentoffs Liner Notes:

Nat Hentoff
With Yusef interested in the near east; Miles Davis in scales from anywhere he can find them, including the folk scales used by Khachaturian; and Cecil Taylor in the colour possibilities of Bali and India, it may well be that no music will be found immune to fusion with jazz in the years ahead. The only caution is that these elemenets ought not be grafted from without, but should be balanced as an organic part of each player’s or writer’s self-expression. The basic point is that there is no reason why these meetings cannot hapen – as they have before in jazz history, from Jelly Roll Morton’s „Spanish tinge“ and beyond.

„Brazil“ scheint im Konzert der Opener gewesen zu sein, „Morning“ erst gegen Ende des Konzerts gespielt worden sein … da hat man für die Platte eine durchaus einleuchtende Umstellung vorgenommen. Leider ist die zusätzliche Musik (fünf weitere Stücke) bisher soweit ich weiss nie aufgetaucht. Die aktuell greifbare Version ist gelinde gesagt fishy und stammt von él Records/Cherry Red, man hat die CD mit „Essential 1957 Studio Recordings“ aufgefüllt – was natürlich nicht geht, denn sonst wäre das Bonusmaterial vier CDs lang geworden …

Die nächsten Aufnahmen entstanden am 11. Juni 1959 – Lateef karrte seine Band nach Hackensack zu RVG und nahm ein letztes Mal für Savoy auf. Beide Alben finden sich auf der ersten CD des 2CD-Sets „The Last Savoy Recordings“. Die Gruppe war noch fast dieselbe, bloss war Morellis Barisax dem Euphonium von Bernard McKinney gewichen, der eine Familie von Detroiter Musikern entstammte (sein älterer Bruder Harold spielte Klavier, Carlos, ebenfalls Pianist, ist ein Neffe, dann gab es noch den Bassisten Ray und den Drummer Earl, soweit ich weiss auch Brüder von Bernard, der sich später Kiane Zawadi nennen sollte).

Das erste Album hiess „The Dreamer“ (MG12139) und öffnet mit einem Blues – dem „Oboe Blues“, dem ersten, den Lateef an der Oboe einspielte. McKinney spielt ein feines Solo am Euphonium, der Klang der beiden Instrumente zusammen ist sehr schön, Lateefs Solo klasse. Dann folgt mit „Angel Eyes“ eins der grossen Highlights. Lateef spielt das Stück an der Flöte, mit dunklem, grossem Ton und weichem Vibrato, McKinney begleitet ihn, spielt auch hier wieder ein kurzes Solo, lässt sein Euphonium fast wie ein Horn klingen – „haunting“ ist das schönste Wort, das mir einfällt. In the „Dreamer“ greift Lateef zum Tenor und in die Vollen. „Arjuna“ ist einem Helden aus dem indischen Epos „Mahabharata“ gewidmet – die Selbstoffenbarung Krishnas, als Arjuna in die Schlacht ziehen soll und zweifelt, weil er auf der Gegenseite Verwandte und Lehrer erkennt, ist als „Bhagavad Gita“ bekannt und einer der zentralen Texte des Hinduismus. Von indischen Anklängen ist in dieser Bop-Nummer aber nichts zu hören, umso mehr dafür von Terry Pollard, die mit einem Solo glänzt, das der Detroiter Klaviertradition (Barry Harris, Tommy Flanagan) Ehre macht. Das Album endet mit Jerome Kerns „Can’t Help Lovin‘ That Man“, in dem Lateef ein bezauberndes Solo spielt, sehr linear, man merkt hier, dass nicht nur Hawkins, Webster oder Byas Bezungspunkte sind, sondern auch Lester Young.

Das zweite Album, das aus den Juni-Sessions hervorging, hiess „The Fabric of Jazz“ (MG12140). Es beginnt mit dem bewegten „Moon Tree“ mit einem funky Thema, sehr eingängig, Lateef am Tenor – dass Herb Boyd in seinen Liners zum 2CD-Set die Jazz Crusaders erwähnt, passt in der Tat! Dann folgt „Stella By Starlight“ und damit Bernard McKinneys grosser Moment im Rampenlicht. Er päsentiert das Thema mit süssem Ton, eignet sich die Melodie förmlich an und spielt dann ein tolles Solo – wundervoll! Dann folgt „Valse Bouk“. Lateef: „We used ‚bouk‘ to suggest something that was ‚in the pocket.‘ I applied the term to several of my tunes, including P-Bouk, a composition I recorded with Cannonball.“
Die zweite Hälfte beginnt mit „Half Breed“, komponiert von einem unbekannten Vibraphonisten namnes Abe Woodley, der seinen Namen zu Nasir Hafiz gewechselt hat. Das Stück ist ebenfalls sehr in the pocket, Pollard spielt mal wieder ein tolles Solo. Das letzte Stück ist dann „Poor Butterfly“, Lateef an der Flöte, einmal mehr ein Meisterstück. Und Pollards Piano ist phantastisch! Schade, dass es von dieser Gruppe nicht mehr gibt, die 65 Minuten der beiden Alben sind viel zu wenig, ich könnte noch stundenlang weiterhören!

Hier das Cover der CD-Ausgabe, die auch die ganze LP „Prayer to the East“ (MG 12117) sowie drei Stücke von „Jazz and the Sounds of Nature“ (MG 12120) und Lateefs eines Stück von „Jazz Is Busting Out All Over“ (MG 12123) enthält (s.o.):

Keepnews versprach in seinem Geleitwort eine zweite Doppel-CD, auf der dann die restlichen Savoy-Aufnahmen von 1957 zu finden gewesen wären. Leider erschien sie nie – mag mit schlechten Verkäufen oder auch mit den Wirren von Savoy damals zu tun haben … ich verstehe die Label-Story bisher nicht wirklich, in den Siebzigern hatte Clive Davis (Arista) einige Aufnahmen gekauft (das ergab dann diese eierschalen Doppel-LPs), irgendwie kam das ganze dann zu Nippon Columbia (via Denon, die in den 90ern eine lange Reihe von manchmal depperten und oft mit Fehlern versehenen CD-Reissues herausgaben, die aber klanglich sehr gut sind), irgendwie war um 2000-2002 als die Lateef-CD und ähnliche 2CD-Sets von den Adderleys und Wilbur Harden erschienen, auch Atlantic involviert (und da kam Keepnews ins Spiel).

Im Oktober 1959 nahm Lateef das nächste Album im Van Gelder Studio auf, wieder für Prestige/New Jazz. Produziert wurde es von Esmond Edwards, der Titel ist „Cry! – Tender“ (NJLP 8234). Die Band ist eine neu-alte, Frank Gant (d) ist der einzige der Vorgängerband, der noch dabei ist, Pianist Hugh Lawson kehrt zurück, dazu stossen neu Trompeter Lonnie Hillyer (später spielte der Musiker aus Detroit mit Mingus) und Bassist Herman Wright (auch er aus Detroit).

Der Opener, „Sea Breeze“, gehört ganz der Oboe Lateefs, das ruhige kurze Stück gibt den Ton vor, hier wird noch weniger mit Klängen experimentiert, als das schon auf den beiden letzten Savoy-Alben der Fall war, stattdessen herrscht eine Stimmung vor, die man als eine nachdenklichere Variante des Motor City Jazz beschreiben könnte. Der tiefe Bass von Wright legt ein exzellentes Fundament und Lawson steuert wieder seine frischen Akkorde und Soli bei, ein kurzes aber sehr hübsches auf „Dopolous“, der zweiten Nummer, in der Lateef an der Flöte zu hören ist und Hillyer noch immer nicht (er begleit kaum hörbar das Thema, immerhin). Das Titeltück ist beginnt als Oboen-Lament, wie alle Stücke ausser dem Opener (von Al Hoffman und Dick Manning, scheint eine hawaiianische Nummer zu sein) sowie dem Standard „Yesterdays“ (Jerome Kern) und Tadd Damersons „If You Could See Me Now“ aus der Feder Lateefs. Er spielt zunächst wie gesagt Oboe, später Tenor, dazwischen ist Hillyer kurz zu hören, fügt sich bestens in die Stimmung der Komposition ein, dann schliess Lateef das „tone poem“ am Tenor ab. „Butter’s Blues“ ist ein Hardbop-Blues-Waltz mit Lateef am Tenor, Hillyer spielt leise unisono mit und bläst dann das erste Solo, sehr lyrisch, geräumig, mit warmen, irgendwie dicken aber zugleich brüchig-dünnem Ton, dann folgt Wright mit einem kurzen Solo, gefolgt von Gant und schliesslich Lawson, bevor Lateef etwa in der Hälfte mit seinem brennenden Tenor übernimmt (toll, wie Wright kurz in einen Pedal Point fällt und das später wiederholt). Geräumig ist Lateefs Solo, gelassen aber dennoch zupackend, bestimmt.

„Yesterdays“ ist wieder die Oboe … getragen von Wrights tiefem Bass, der wie sein Chef die Kunst des Öffnens von Räumen beherrscht. Lawson streut Akkorde ein, Gant hält sich diskret mit Besen im Hintergrund, Lateef erlaubt sich ein paar Schnörkel im Thema, dann folgt Hillyer mit einem Solo in doppeltem Tempo mit einem klasse Einstieg, lapidar vielleicht, aber auch genial. Wright übernimmt – er hat es definitiv verdient, ein paar Soli zu kriegen, ein toller Bassist, einer der unterschätzen Jener Zeit (nicht mit dem ebenfalls tollen Eugene oder Gene Wright aus dem Dave Brubeck Quartet zu verwechseln … Herman Wright spielte u.a. mit Dorothy Ashby und Sonny Stitt, war an den Mitt-Sechziger Prestige-Sessions von Chet Baker beteiligt – auf der mit Kirk Lightsey und Roy Brooks zwei weitere Detroiter zu hören sind – und wirkte an Doug Watkins‘ einzigem Album als Leader mit). Auf Wright folgt Lawson, dann bringt Lateef das Stück wieder im langsamen Tempo zu Ende. „If the Snow Gets Green“ ist ein schnelles kurzes Stück, Lateef (Tenor, Argol), Hillyer (er legt vor) und Lawson sind zu hören. Damerons Ballade gehört wieder Lateefs Tenor und ist einmal mehr Zeugnis seiner grossen Künste als Balladen-Sänger. Den Abschluss macht „Ecaps“, das letzte Stück der 1957er Sessions, die schon „Sounds of YL“ und „Other Sounds“ ergeben hatten. Wilbur Harden ist klasse, Lawson ebenfalls toll, Lateef ist nochmal am Tenor zu hören. In den Liner Notes wird die andere Besetzung übrigens nicht erwähnt und beim Line-Up, der auf der CD angegeben ist, fehlen Lawsons Name sowie das Aufnahmedatum – seltsam. Der damalige Hörer glaubte wohl, das Stück sei von derselben Session mit Hillyer wie der Rest der LP. Jedenfalls ein weiteres gutes Album mit einigen verdammt tollen Momenten und generell dem hohen Niveau, das Lateef damals verlässlich hielt.

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