Startseite › Foren › Über Bands, Solokünstler und Genres › Eine Frage des Stils › Über die Klasse der Klassik › Die Zauberflöte ein "Machwerk“? › Re: Die „Zauberflöte ein Machwerk“? Anderes?
Anonym
Registriert seit: 01.01.1970
Beiträge: 0
In der Tat, ein riesiges Fass, das Du angestochen hast. Und die Antworten zeigen doch schon, dass hier meist das Ästhetische im Vordergrund steht. Es gibt verschiedene Weisen, sich dazu zu äußern, man kann das in Metaphern tun, man kann am Notentext entlang diskutieren (selbst kann ich zwar auch Partituren lesen, aber nicht in dem Maße, dass ich mitreden könnte; ich erinnere eine Sendung im Südwestfunk, ich weiß nicht, ob es sie noch gibt, da wurde ein Werk im Zwiegespräch mit Komponisten oder Musikwissenschaftlern über zwei Stunden seziert, wunderbar), man kann – für den Moment – auch einfach sagen, „dies erhellt“ oder „dies ist Unfug“ (wie Du es, otis, bei diesem Wellington-Kram ja machst). Es gibt halt verschiedene Zeiten und Tage. Ich versuche einmal, ein paar meiner Kümmernisse bei diesem Thema zu nennen.
So interessiert mich ein Kanon überhaupt nicht. Es ist mir gleichgültig, ob eine diffuse Masse durchsprenkelt von und versetzt mit Fachleuten irgendwelche Werke anempfiehlt. Hellhörig werde ich erst bei individuellen Empfehlungen – und diese gibt es hier im Forum, wieder auf solche und solche Weise, mannigfach. And I’m thankful for that. Die Kanongeschichte interessiert mich sogar so wenig, dass ich vielmehr die Subjektivität im Ästhetischen hervorheben möchte. Sie ist unhintergehbar, sie allein gewährt einen seriösen Bezug zum Ästhetischen, also Objektivität (Man vergisst so leicht die Bedeutung dieses Wörtchens: es meint einfach Gegenstandsbezug. Und im Ästhetischen ist ein anderer als subjektiver Bezug nun einmal nicht möglich, daran hat Kant sich erhellend abgerackert.). Dass sie, die Objektivität, dadurch zuweilen etwas wankelmütige Schlieren bekommt, ist nicht zu ändern und nicht zu betrauern, sondern vielleicht einfach als belebend zu empfinden. Und genau in diesem Sinn sind mir sogar kurze Nennungen von Werken eine Anstachelung, wie es sich ergibt.
Der Kanon interessiert mich auch deshalb nicht, weil die Zeit bemessen ist. Und dann, man kann Gegengeschichten, andere Geschichten, Parallelgeschichten schreiben und wahrnehmen. Auch das wäre Objektivität. Man könnte eine Geschichte der Musik schreiben, in der nur die heute Vergessenen vorkommen. Man könnte, wie es getan wurde (Gumbrecht z. B.), eine Geschichte schreiben, die alles zusammenzubringen versucht, was in einem Jahr geschah. Viel würde sich, außer in einem anderen subjektiven Empfinden, nicht ändern. Auch die Vergessenen haben sich abgearbeitet an den Formen, an den Inhalten, an der Zusammenschraubung der beiden je nach den Möglichkeiten, die sie damit selbst erschafft haben. Wie man das wertet – ist individuelle Motivation, für die man am Ende wohl den Sternenkreis befragen muss statt Objektivität einzuheimsen.
Dann: „Die Zauberflöte war Pop“, damit bin ich auch einmal hausieren gegangen. Daran stimmt aber etwas nicht. Pop gibt es in einem Kontext – eines Weltwissens, wie gypsy sagte -, also in einer Abgrenzung. Diese Abgrenzung hat am Ende des 18. Jahrhunderts anders stattgehabt als heute oder in den letzten Dezennien. Worauf auch das Wort von Spohr, dass Du zitierst, hinweist. Dass Beethoven am Ende keinen „Geschmack“ mehr hatte, diese Äußerungen sind Legion. Aber darum doch noch nicht richtig. Weshalb ich hier, weil ich es nicht verstehe oder widerspreche, Zweifel habe, große Zweifel:
otisIch denke, dass bezogen auf die Beispiele oben gar kein „Weltwissen“ vorangehen muss. Das liegt doch auf der Hand. Und da wo es und wenn es vorhanden ist, steht es doch nicht im Wege, vielmehr sollte und kann es doch genutzt werden.
Im Ästhetischen liegt nichts auf der Hand. Ich lese – und bitte entschuldige, otis, wenn ich das zu offen sage, aber wenn Du die Diskussion über das Ästhetische willst, dann finden sich nun einmal viele Stimmen ein – Deine Worte zum vierten Satz von Beethoven IX, zu Bachs Konstruktionen, die das Herz nicht erwärmen können, als seltsam voreingenommen. Mir erwärmt gerade Bach das Herz. Und zwar so richtig. Dann wieder anderes. Und die Banalität des vierten Satzes erschließt sich vielleicht eher, wenn man ihn als Bruch – und zwar ausgesprochenen Bruch – mit dem Vorangegangenen hört („nicht diese Töne“). Eine Diskussion über das Ästhetische würde nicht sagen, dass dies banal sei, sondern fragen, warum nur diese Weise, zu dieser Zeit, der Hoffnung möglich gewesen ist, und zwar für Beethoven. Ich sagte ja, ich hätte gerne Beethoven XI. – Viel näher an dem, zu dem Du anregen möchtest, scheint mir, ist der Vergleich von Mahler II und Beethoven IX. Das wäre eine ästhetische Perspektive, allerdings.
Zu den Noten, dem Text: Darin ist der Jazz der Klassik überlegen, oder vielmehr er übersteigt sie in dem Makel, der an der Tatsache der Noten hängt oder meinetwegen (Charles Mingus!) sticht er genau in die Schwäche, die pulsierende Schwäche eines Verhältnisses von Vorgegebenem und Interpretation. Und genau deshalb sind Eindrücke zu verschiedenen Interpretationen auch so wichtig. Und wenn man dann sagt: „Das hier ist es“, sei’s ein Standard von Art Pepper, sei’s der „Tristan“ von Wagner (und den gibt es eben nicht, es gibt nur die Interpretationen, es gibt da kein „an sich“, was man sogar auch ohne Partitur hören würde), dann regt das an, belebt, lässt Folgen, lässt ratlos, erfreut, was immer.
Was, otis, stört Dich an klassischer Musik?
--