Re: Die „Zauberflöte ein Machwerk“? Anderes?

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gypsy-tail-wind
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grünschnabelFolgendes denke ich gerade: Das, was Otis ausspricht, sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Um devote Lobpreisung des Kanons (den es ja faktisch gibt, wenn auch mit flexiblen Grenzen) darf es sicherlich nicht gehen.

Aber sicher doch! Und mich dünkt gerade in der kleinen Diskussionsrunde hier ist das nun wirklich nicht der Fall. Sollte ich in meinem notorischen Überschwang manchmal so rüberkommen, so ist das keinesfalls unkritisch zu denken. Aber ich bin nicht gewillt meinen Enthusiasmus prophylaktisch zu drosseln, wenn er denn da ist, ist er echt.

grünschnabelWer den „Friede, Freude, Eierkuchen“-Exzess von Beethoven als banal empfindet, soll das unbedingt äußern, ohne im Gegenzug als Barbar hingestellt zu werden. Der Austausch muss jederzeit offen sein, so etabliert die Werke auch sein mögen.

Es gab ja gerade im Hör-Thread einen kleinen Exkurs über die Rezeptions- bzw. Wirkungsgeschichte von Beethovens Neunter. Das Werk und seine Verwurstung in Audi-Werbungen und Nürnberger-Reden auseinanderzuhalten, halte ich jedenfalls für ein Unterfangen, das zumindest versucht werden muss, wenn man eine solche Dikussion ernsthaft führen will.

Das mit dem Werk „an sich“ halte ich für eine Phantom-Idee – gerade wenn man nicht willens ist, die Partitur zur Hand zu nehmen. Das Werk „an sich“ ist ein Text auf Papier, der klingt nur in der Vorstellung. Jede Umsetzung des Textes bedingt Entscheidungen. Und nein: die Anweisungen, die der Text gibt, sind oft nicht eindeutig, man kann nun wirklich nicht behaupten, die Entscheidungen seien alle bereits getroffen und man brauche sie nur buchstabengetreu umzusetzen. Das hielte ich für eine so verkürzte Sichtweise, dass die Diskussion über das ganze Thema hinfällig würde. Und genau darum ist doch der Interpretationsvergleich oft ein sehr probates und spannendes Mittel, sich einem Werk zu nähern. Weil z.B. Claviersonaten Mozarts in den Händen Glenn Goulds ein völlig anderes Werk „an sich“ im Hintergrund vermuten lassen können, wenn man sie z.B. mit Claudio Arrau vergleicht. Man hat dann Ansatzpunkte für eine Diskussion, müsste natürlich auch tiefer bohren, Goulds Aussagen zu Mozart beiziehen, warum er ihn so gespielt hat etc. – und natürlich auch die Noten, allenfalls Handschriften etc. Es ist nicht so, dass ich das alles machen könnte … ich kann Notenlesen, klar, ich verfolge auch sehr gerne manchmal die Noten zu einem Werk, das ich höre – aber eine Kritik der Umsetzung einer gewissen Einspielung kann ich auf einer solchen Basis kaum wagen.

grünschnabelUnd das geht noch weiter: Wenn ich bedenke, dass wir hier im RS-Forum sind, muss ich mal eine abschätzige Tirade über die namensgebende Zeitschrift loslassen: In den wenigen Ausgaben, die ich kennen gelernt habe, stand quasi nichts über Musik in diesem Sinne drin. Klar, Artikel über die kontextbezogenen Faktoren noch und nöcher – und unbegründete subjektive Geschmacksurteile der Rezensenten ebenfalls. Ich sage es mal ganz offen: Ich glaube, dass der RS kaum Musikredakteure / Mitarbeiter hat, welche einer fundierten Auseinandersetzung über ästhetische, qualitative Urteile hinreichend gewachsen wären. Und sollte meine Äußerung dazu führen, dass ich eines Besseren belehrt werde, würde ich sicherlich demütig Abbitte tun und mich darüber auch freuen.

Deshalb liest man The Wire oder sowas … oder greift zu get happy!? ;-)

grünschnabelIch gebe Gypsy Recht, wenn er mit Blick auf Qualitätsdiskussionen auf die Schwierigkeit des Überwindens der Subjektivität hinweist: Zwar können auch die kenntnisreichsten, informiertesten Urteile niemals (…!!!) endgültige Entscheidungen über Qualitätsfragen sein, aber ohne (wie auch immer profunde) Kenntnisse lässt sich die Schwelle des subjektiven Geschmacksurteils grundsätzlich eben gar nicht erst überschreiten. Ich bin überzeugt davon, dass es Aussagen über Musik gibt, die einen rein subjektiv geprägten Austausch überbieten / überwinden können.

Ja, aber dazu muss man sich eben, wie ich schon sagte, mit dem Werk, mit seiner Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte auseinandersetzen, das Werk im Kontext anderer Werke verorten etc. Ich habe das immer wieder im Bereich der Literatur getan, fühle mich da auch einigermassen sattelfest, bzw. in der Lage, solche Arbeit zu leisten. Was die Musik betrifft sieht das allerdings anders aus, selbst beim Jazz sind mir meine Grenzen ziemlich klar bewusst (sie sind allerdings ein gutes Stück weniger eng als in der Klassik), zumal wenn es um musiktheoretische, technische Details geht. Da bleibt dann eben oft doch nur der Griff zu Aussagen, die Ge- oder Missfallen ausdrücken, Gefühle zu fassen versuchen und daraus den einen oder anderen Schluss zu ziehen oder eher: die eine oder andere These aufzustellen, die vielleicht eine Vorstellung davon geben kann, *warum* man auf Gefühlsbasis zu einem Urteil gelangt.

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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #151: Neuheiten aus dem Archiv – 09.04., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba