Re: Free Jazz is a weapon

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gypsy-tail-wind
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Um doch mal noch etwas Konstruktives zu posten und nicht nur Einzeiler von mir zu geben … was ist denn Free Jazz?

Es gibt auch heute noch Leute, die Ornette Colemans frühe Aufnahmen (seinge ganz grossen Klassiker für Atlantic etwa, ich meine damit weniger „Free Jazz“ als „The Shape of Jazz to Come“, „Change of the Century“ und „This Is Our Music“) für das Ende aller Tage halten. Dabei sind Ornette oder Cecil Taylor oder Albert Ayler – wie oben angedeutet – und auch die anderen Leute der ersten Free Jazz Generation, Archie Shepp, Pharoah Sanders, Marion Brown etc. etc. ohne grössere Schwierigkeiten herleitbar aus vorangegangenen Entwicklungen und Strömungen des Jazz – aber ganz ohne sozio-kulturellen und politischen Hintergrund verstehen sollte man ihre Musik natürlich auch nicht.

Ich will bewusst kein Forschrittsmodell aufbauen, die Stilabfolge, die Entwicklung und Abwandlung im Jazz ist, was sie ist, ältere Stile blieben aber zumeist weiterhin besehen (es gibt ja heute noch den Hot Jazz Club Hinterbayern, der zum Frühschoppen aufspielt), um 1960 konnte man in New York wohl aus dem Club, in dem grad Monk spielte rüber zu Ornette und von da dann zu Roy Eldridge, der gerade mit einer Dixieland-Band auftrat (was auch nicht gerade sein bevorzugter Stil war) und dann weiter zu Phil Woods oder Clark Terry oder Tommy Flanagan, die schon damals etwas machten, was man wohl Mainstream nennen darf (obwohl Woods mag ein schlechtes Beispiel sein, er ist ein in der Wolle gefärbter Bebopper, ob man das um 1960 schon als Mainstream anerkannt hat, weiss ich nicht). Die Vielheit der Stile war schon im Chicago der Zwanzigerjahre gegeben mit dem Exodus der New Orleans-Musiker (King Oliver erst, dann Louis Armstrong, der seine Hot Fives in Chicago ins Studio brachte) und dem nebenher entstehenden weissen Jazz der New Orleans Rhythm Kings mit dem grossen Leon Roppolo, von Bix Beiderbecke (Bix kommt übrigens von Bismarck, so hiess sein Vater, die Familie stammte anscheinend aus der Lüneburger Heide) und Frank Trumbauer, von Joe Venuti und Eddie Lang und etwas später der sogenannten Austin High School Gang. Auch die Boogie Woogie-Pianisten waren noch eine ganze Weile unterwegs.

Free Jazz ist ein hilfreiches aber am Ende leeres Etikett, das man stets füllen muss, damit klar wird, was man damit meint – oder man läuft Gefahr, dass Unmengen von Musik in einen Topf geworfen werden, von Coltrane über Coleman, Taylor, Ayler, Shepp und all die genannten über Mingus (manche halten dann gar Eric Dolphy für einen Free Jazzer) und die nächsten Generationen, das Art Ensemble, Braxton, Wadada etc. etc. bis hin zur europäischen Avantgarde (Breuker, Mengelberg, Bennink, van Hove, Evan Parker, Barry Guy, Brötzmann, Schlippenbach etc.), die eigentlich nie Free Jazz machten oder machen wollten (aber zugegeben, auch ich bin öfter unscharf in der Abgrenzung der europäischen Avantgarden – im Plural ist mir das lieber als im Singular – vom afro-amerikanischen Free Jazz).

Was ich sagen will: wenn Free Jazz eine Waffe sein soll, welcher Free Jazz ist denn gemeint? Free Jazz ist so vielschichtig und bunt, dass es schwer ist, sich zu verständigen, wenn man nicht etwas konkreter wird. Das wiederum, Mikko, ist nicht als Vorwurf an Dich gemeint, bloss als Erklärungsversuch.

Der Satz ist plakativ und hübsch und provokant und passt durchaus auf einige Facetten des Free Jazz, gerade auf den Angriff der afro-amerikanischen Avantgarde der frühen Sechziger, die – vor allem in New York – durchaus klassenkämpferische Züge trug und als bedrohlich empfunden werden konnte. Andererseits gibt es auch da Musik, die durch ihre Ruhe und Spiritualität beeindruckt, Coltane allen voran natürlich, aber auch Albert Ayler. Und Colemans Musik aus den Sechzigern halte ich so rein und so voller purer Schönheit wie nur wenig anderes überhaupt.

Ein Hörtipp, ein Musiker, den ich auch erst grad und nur durch Zufall entdeckte: Hakon Kornstad, er spielt Saxophone, Flöten und anderes Zeugs und arbeitet mit (altmodischer) Loop-Technik, auch im Studio spielt er seine Musik live ein.
http://www.youtube.com/watch?v=3u0tCpG5vPE
Ob das nun Free Jazz ist oder sein soll, keine Ahnung.

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