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tolomoquinkolomEs ist amüsant, dass Leute, die auf sog. Authentizität von Musik bzw. der von Künstlern großen Wert legen, gleichzeitig von den Möglichkeiten der Sampling-Technik schwärmen (ich beziehe mich bei dieser Beobachtung auf mein persönliches Umfeld, denn mir ist natürlich nicht bekannt, wie sich das im Forum verhält).
Zitat-Pop, Vintage und Retro sind unterschiedliche Dinge. Über die Notwendigkeit der Verarbeitung zurückliegender popkultureller Einflüsse im Zitat-Pop muss nicht viel diskutiert werden. Vintage ist ein leidlicher, sehnsüchtiger, nostalgischer An- oder Einfall. Retro hat mit Vergangenheit und Erinnerung zu tun und enthält mindestens ein Element der exakten Wiederholung, die eine Nachbildung eines alten Stils erst erlaubt. Ein Merkmal von Retro-Künstlern ist es, nicht zitiert zu werden; man hält sich an die Originale.
Sampling ist Rückgriff (und in diesem Sinne retro). Eher Zapping-Tool der Künstlichkeit als der Kunst. Mehr Trödelladen als Kreativ-Workshop. Beim Sampling wird von den Hervorbringern nichts real nachgespielt bzw. interpretiert – wie es z.B. beim nacheifern junger Künstler oder Bands ihrer Vorbilder der Fall ist -, sondern bereits fertiges Material, also vorhandene und vorrätige Artefakte (Stimme, Instrument, Musikstück, Excerpt) zurückliegender Pop-Historie kopiert und dupliziert. Künstlerisches Handwerk oder Handschrift haben keinerlei Bedeutung (nicht nur die Cut- & Mix-Technik im Hip-Hop kommt aus musikalischer Sicht ohne besondere handwerkliche Geschicklichkeit aus). Der Unterschied liegt also in der Aneignung.
Wenn es eine Art Kunst ist, dann – nach Meinung von Diedrich Diederichsen – eine der Reproduktion und damit auch der Fälschung. Für Zitiermaschinisten (Sampling-Künstler) geht es darum, sich mit Hilfe von Archivmaterial und daraus herausfiletierten Schnipseln – also den künstlerischen Hervorbringungen anderer – in die Welt hineinzumontieren. Das Selbstverständnis des Künstlers in der Popkultur, der aus sich selbst schöpfend, eigenverantwortlich und kreativ vorgeht, hat sich damit und mit Hilfe neuer digitaler Möglichkeiten, wenn nicht erledigt, so doch radikal verändert. Sampling bzw. bloße Veränderung der Anordnung der Splitter allein reicht jedoch nicht aus. Kreativ Neues entstünde erst durch ein anderes, vom Künstler selbst hinzugefügtes Element und zwar eines ohne pophistorische Vergangenheit – eben ein neues.
Ein weiterer Aspekt im Zusammenhang mit Innovation, Ästhetik, Kreativität, Klangvielfalt, der Sampling-Technik und elektronischer Popmusik wäre die digitale Klangerzeugung als perfektes Imitat anderer, nichtelektronischer Instrumente. Im Sampling-Land der Fälschungen, Simulationen und Illusionen entsteht mittels Software-Emulation mit Hilfe eines Keyboard-Interface z.B. ein Saxophon-Solo oder auf Tastendruck auch schon mal eine komplette Holzbläser-Sektion oder gleich ein ganzes virtuos ‘aufspielendes’ Fake-Orchester. Samplings dieser Art begegnet man in vielen Werken unterschiedlichster Musikstile – meist ohne es überhaupt noch zu bemerken. Die Nachahmung scheint perfekt und mit Physical Modelling werden Dinge wie Gehäuseresonanz, Einschwingung, Anschlagstärke u.ä. künstlich erzeugt, um der musikalischen Genusserfahrung zu genügen. Illusion tritt an die Stelle der Innovation und als nächstes sind die Interpreten fällig. Ich kann schon die Frage hören: wieso ist das wichtig und wen interessiert das?
Das Sampling ist nun mal Stilelement im Hip-Hop. Die Ausschnitte werden in einen völlig neuen Zusammenhang gestellt. Was nun Kunst mit handwerklichem Anspruch zu tun hat muss du auch noch mal bitte erklären. Dies mit – ich sag mal – aktueller Software wie Pro-Tools in einen Topf zu werfen ist grundlegend falsch. Mag sein dass hier Harrisons Gitarren-Sounds und weiss der Teufel gesampelt sind, was ein Retro-Sounddesign für jeden leicht verfügbar macht.
Und zum Thema Authenzität ist doch hier alles gesagt:
Nicht_vom_ForumWo ist denn Musik grundsätzlich „echt und authentisch“? Wenn ein Millionär wie Springsteen von der Unterschicht singt? Wenn Aimee Mann (die seit Jahrzehnten anscheinend glücklich verheiratet ist) von Beziehungsproblemem singt? Wenn Mozart die kleine Nachtmusik tagsüber komponiert? Musik ist immer abstrahiert und somit „künstlich“ (deswegen heißt es „Kunst“) und nur begrenzt authentisch. Und das macht genau gar nichts. Aber das wäre wohl eher etwas für einen Nachbarthread (den es bestimmt irgendwo in den Forumstiefen schon gibt).
Aber schön zu sehen, tolo, wie ernsthaft dich das Thema interessiert, wenn du andere Ansichten gleich blasiert als „amüsant“ disqualifizierst.
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~ Mut ist, zu wissen, dass es weh tun kann und es trotzdem zu tun. Dummheit ist dasselbe. Und deswegen ist das Leben so schwer. ~