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Nordau gegen Napoleon
Napoleon hat in Rußland Unglück gehabt und Nordau weiß, wie es hätte vermieden werden können. Er gibt nachträglich einen Rat, der sich im Wiederholungsfall hoffentlich bewähren wird. Also:
Napoleon mußte Preußen vollständig opfern, Schlesien und Tirol Österreich zurückgeben, Bayern mit Rheinbundgebiet entschädigen. Er mußte Schweden, dessen Kronprinz, sein Marschall Bernadotte, zwar auf der Hut, doch nicht unzugänglich war, durch die Zusage der Abtretung Finnlands gewinnen, Polen vorbehaltlos, auch mit dem von Preußen wieder loszureißenden Posen, als unabhängiges Reich, am besten mit einem Bruder des Kaisers Franz als König, wiederherstellen, mit der Türkei, die zwar zerrüttet, doch nicht gelähmt war und noch ihr Janitscharenheer besaß, ein Bündnis schließen, das ihr die Krim und ganz Südrußland, soweit es tatarisch durchsetzt war, wiedergab. Von allen Seiten, von Norden, Westen, Süden, mußten Heere in Rußland einbrechen, nicht nur Franzosen und Bayern, am allerwenigsten eine schwache Streitmacht widerwillig mitziehender, grimmig franzosenfeindlicher Preußen, die sich ja auch beeilten, bei Tauroggen abzufallen, sondern begeisterte Polen, revanchegierige Schweden, reichlich entschädigte, vaterländisch befriedigte Österreicher, von neuen Hoffnungen trunkene Osmanli. Der Krieg mußte damit beginnen, daß diese Bundesgenossen die ihnen überlassenen, aus dem Leibe Rußlands und Preußens geschnittenen gewaltigen Gebiete an sich rissen, sich darin festsetzten und endgiltig einrichteten. Das dann noch übrig bleibende Rußland, auf den Stand des einstigen Großfürstentums Moskau mit der Republik Nowgorod zurückgeführt, war von vornherein als Großmacht vernichtet und es hatte nicht viel zu bedeuten, ob es Frieden schließen wollte oder nicht.
Nachdem Nordau auf diese Art Europa aufgeteilt und die Landkarte besser redigiert hat als Napoleon in seiner besten Zeit, sagt er schlicht:
Das scheint, heute in kurzen Worten dargelegt, ein tolles Hirngespinst. Aus der politischen Lage von 1812 gesehen, ist es ein durchaus erwägenswerter und sehr wohl ausführbarer Plan. Aber freilich, um ihn zu ersinnen und zu verwirklichen, mußte man kühn bis zur äußersten Verwegenheit sein. Das aber war Napoleon nicht oder 1812 nicht mehr. Es klingt seltsam, beinahe komisch, ist aber buchstäblich wahr; es fehlte Napoleon, für den das Schlachtfeld keine Schrecken hatte, an bürgerlichem Mut, an jenem Mut, dem es vor keiner Folge eigener Vorsätze und Entschlüsse bangt. Er wagte nicht mehr die rücksichtslosen Umkrempelungen der Weltkarte, mit denen er seinen Aufstieg begonnen hatte.
Es klingt seltsam, beinahe komisch. Dennoch kann nicht bezweifelt werden, daß Nordau, der im Gegensatze zu Napoleon kühn bis zur äußersten Verwegenheit ist, den Plan, den er ersonnen hat, auch zu verwirklichen imstande wäre. Nordau gibt zu, daß der junge Napoleon, damals, »als er Verstragödien im Stil Corneilles träumte, eine lodernde Phantasie hatte«. Später noch erwog er einen Kriegszug nach Indien durch die Türkei und Persien. Seinen Krieg mit Alexander hätte er »mit Einfällen dieser Art ins Werk setzen müssen. Es mußte ein ungeheures Abenteuer nach dem Zuschnitt der Geschichten von Tausend und einer Nacht werden.« Aber Napoleon hatte eben nicht mehr die Phantasie Napoleons und noch nicht die Phantasie Nordaus, nicht diese speziell über den Orient orientierte orientalische Phantasie. Sein Einfall in Rußland war deshalb kein Einfall, der für ein Feuilleton ausreicht. Und der Feldzug von 1812 ist nicht nur ein Triumph Alexanders I., sondern auch:
die erbarmungslose Bestrafung der Unzulänglichkeit eines anderen Menschen, Napoleons I., der sich auf ein ungeheures Unternehmen einließ ohne den Fernblick, der die Grenzen eines Wagnisses absieht, und ohne die dämonische Entschlossenheit, in einem begonnenen Abenteuer bis zum alleräußersten zu gehen.
Mit einem Wort, es hat ihm der bürgerliche Mut gefehlt, mit dem Nordau schon heute Europa umwälzt. Mit einem Federstrich. Aber gebt ihm erst das Königreich, das ihm zugehört, gebts es ihm und ihr werdets Einfälle nach Europa erleben, daß der Klio das Schreiben vergeht und statt ihrer die Cloeter den Griffel übernimmt. Kleinigkeit, was sich da tun wird: Preußen wird selbstredend vollständig geopfert. Schweden bekommt Finnland zurück und Brandes, der nicht unzugänglich ist, wird König, Posen wird von Preußen abgerissen und an Harden zurückgegeben, Polen wird vorbehaltlos als unabhängiges Reich, am besten mit einem Bruder des Gelber wiederhergestellt, die Türkei, die zwar zerrüttet, doch nicht gelähmt ist, wird an Münz abgetreten, und alle Bundesgenossen müssen diese gewaltigen Rubriken an sich reißen, endgiltig einrichten und sich darin festsetzen, indem von allen Seiten, von Norden, Westen, Süden, Osten Bankdirektoren in Rußland einbrechen, begeisterte Polen, revanchegierige Ungarn und von neuen Hoffnungen trunkene Freunde unseres Blattes seit der Gründung überhaupt. Nachdruck wird nicht honoriert, Österreich bleibt im Übersatz, der Reinertrag fällt der Concordia zu.
(Die Fackel: Nr. 357-358-359, 05.10.1912, S. 20-21)
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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=